Rock-Musik in der Sowjetunion

Heisse Rhythmen als heisse Ware

Westliche Pop- und Rockmusik erfreut sich in der Sowjetunion grösster Beliebtheit. Besondere Anziehungskraft übt auf die Jugend Russlands der sog. Hard Rock aus. Auf Moskauer und Leningrader Häusermauern erblickt man oft Aufschriften mit den Namen der bekanntesten amerikanischen und britischen Rockgruppen. Infolge der negativen Haltung der offiziellen Behörden zu diesen westorientierten Neigungen der Sowjetjugend ist in den letzten Jahren ein halblegaler Handel mit ausländischen Rockplatten und Tonbändern entstanden. Zehntausende Jugendlicher sind ständige Kunden dieser Schwarzmarktunternehmer.
In jüngster Zeit ist Leningrad zum Zentrum des Rock-Disco-Business geworden. Ein grosser Teil der Waren wird den Schwarzmarktagenten von sowjetischen oder ausländischen Seeleuten unter der Hand verkauft. Auch westliche Touristen bereichern den sowjetischen Schallplattenmarkt. Die Preise für neue Platten bekannter ausländischer Gruppen sind in Leningrad und Moskau ausserordentlich hoch — durchschnittlich je 70 Rubel (90 US-Dollar). Zurzeit sind in der UdSSR folgende gruppen besonders in Mode: “Deep Purple”, “Pink Floyd”, “Rainbow”, “Whitesnake”, “Led Zeppelin”, “Queen”, “Slade” und “Nazareth”. Nach wie vor sind die Beatles beliebt. In den sowjetischen Provinzstädten kosten ihre LPs 100 bis 120 Rubel.
Die staatliche Schallplattenindustrie der UdSSR hat mehrere Platten mit den Aufnahmen populärer westlicher Rock-Stars (Elton John, Suzy Quatro u.a.) auf den Markt gebracht. Die Platten waren selbstverständlich rasch ausverkauft, aber auf dem Schwarzen Markt werden in der UdSSR erzeugte Platten — ihrer verhältnismässig niedrigen technischen Qualität wegen — nur wenig geschätzt.
In Leningrad gibt es mindestens vier Schwarmarktzentren, wo westliche Platten bzw. Tonbänder feilgeboten werden. Nur selten jagt die Polizei Händler und Kunden auseinander. Die Sowjets drücken meist bei dieser Art von Geschäftstätigkeit ein Auge zu. Schliesslich werden ja sogar in sowjetischen Elitekreisen westliche Moden nachgeahmt.
Unter den Geschäftsleuten, die ausschliesslich mit westlichen Schallplatten handeln, sieht man oft — laut Berichten jüngster sowjetjüdischer Einwanderer — solide Männer im Alter von 40-60 Jahren, die offensichtlich gute Beziehungen zu Zollbeamten haben und mit dem westlichen Ausland in ständigem Kontakt stehen. Für manche dieser Herrschaften ist der Plattenhandel eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle. Die Kunden sind grösstenteils Teenager.
In den einzelnen Sowjetstädten gibt es besondere “Disco-Kontakte”; so werden beispielsweise in Moskau westliche Schallplatten von ausländischen Touristen oder Studenten aus den Ländern der Dritten Welt (meist Afrikanern) verhältnismassig billig eingekauft und danach auf den Schwarzen Markt gebracht. In Odessa gibt es feste Verbindungen zwischen Plattenspekulanten und Matrosen einheimischer oder ausländischer Handelsschiffe.

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Unter dem Einfluss westlicher Unterhaltungsmusik kam es in den siebziger Jahren zur Bildung sowjetischer Rockgruppen, wie z.B. “Moskwa”, “Arax”., “Vitamin”, “Arsenal”, “Integral” u.a. Die bekannteste der sowjetischen Rockgruppen ist die “Maschina Wremeni” (Zeitmaschine).
Das musikalische Niveau dieser Sowjetgruppen lasst sich mit dem der westlichen Welt kaum vergleichen; gross ist aber der Enthusiasmus der Rockmusiker und des Publikums. Die Sänger befinden sich in einer kaum beneidenswerten Lage: Die in Konzerten dargebotenen Songs dürfen nur in russischer Sprache vorgetragen werden. Die russische Sprache mit ihren vielen weichen Konsonanten ist jedoch für den “Hard Rock” kaum geeignet. Zudem werden die besten Lieder der sowjetischen Rockgruppen in äusserst geringen Auflagen auf den Markt gebracht.
1980 fand in Tbilisi, der Hauptstadt der Grusinischen Sowjetrepublik, ein grosses Rockfestival statt. Die “Zeitmaschine” belegte bei diesem Wettbewerb den ersten Platz. Unlängst gab die Gruppe — höchst erfolgreich verlaufene — Gastspiele in verschiedenen Städten der UdSSR. Kurz nach Beendigung der Tournee attackierte die sowjetische Zentralpresse die Rockgruppe. In mehreren in Moskau und Leningrad veröffentlichten Artikeln wurde die Band beschuldigt, “pessimistische Lebensstimmung und Nachahmung westlicher dekadenter Vorbilder zu propagieren”. Die Anti-Rock-Kampagne dauert noch an.
Falls diese Presseangriffe fortgesetzt werden, wird es den sowjetischen Rockgruppen nicht mehr möglich sein, in zentralen Konzertsälen aufzutreten. Das bedeutet aber keineswegs, dass das Interesse der Sowjetjugend für ihre einheimischen Rock-Musiker schwinden wird. Die betreffenden Konzerte werden dann jedoch halblegal in schäbigen, am Stadtrand gelegenen Räumlichkeiten stattfinden müssen.

L.K.

[Aufbau Nov. 5, 1982. p.19]