Neue Ära im Kreml
Die erstaunliche Karriere des Jurij Andropow
Die Würfel sind gefallen. Am 11. November — 24 Stunden nach Leonid Breschnjews Tod — wurde Jurij Andropow, ehemaliger Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB, vom Zentralkomitee der KPdSU zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt. Bis auf den letzten Tag war — zumal im Westen — das grosse Rätselraten um Breschnews Nachfolge in vollem Gang. Die bekanntesten Kreml-Fachleute Amerikas und Westeuropas nannten hierbei meist zwei Kandidaten: Tschernenko und Andropovow. Viele westliche Beobachter neigten zur Annahme, dass der 71jährige Konstantin Tschernenko, Leonid Breschnjews Intimus, dessen Nachfolge antreten werde. Allerdings wurde nicht in genügendem Mass in Betracht gezogen, dass Tschernenko voll und ganz auf die schützende Hand Breschnjews angewiesen war. Der Breschnjew-Günstling hat in den letzten Jahren eine Blitzkarriere gemacht (1977 wurde er zum Politbüro-Kandidaten gewählt; ein Jahr danach war er schon Vollmitglied des Politbüros). Der Umstand, dass Tscher- nenko Breschnjews Favorit war, bedeutete jedoch keineswegs, dass ihn die Politbüround ZK-Mitglieder — nach Hinscheiden seines mächtigen Freundes — zum Generalsekretär wählen wurden. Offensichtlich begriff das Tschernenko selbst. Er war es, der Andropow für den hohen Posten empfahl. Es lässt sich annehmen, dass der Machtkampf im Kreml schon vor Breschnjews Tod entschieden war.
Jurij Andropow galt in Kreisen westlicher Kenner der Sowjetunion als zweitmöglicher Spitzenkandidat. Die amerikanische Presse hob in jüngster Zeit mehrfach hervor, dass Andropows 15jährige Tätigkeit als KGB-Chef seine Wahl zum Posten des Generalsekretärs beeinträchtigen könne.
Die Prognosen des “Aufbau” haben sich indes als richtig erwiesen Am 9. Juli d.J. wurde im “Aufbau” Jurij Andropow als Breschnjews Nachfolger genannt. Hierbei wurde auf Ereignisse hingewiesen, die Andropows Position noch mehr festigten. Ende Mai d.J. tagte das Plenum des Zentralkomitees der Partei. Es kam zu mehreren Personalveränderungen. Von besonderer Bedeutung war Andropows Ernennung zu einem der zehn Sekretäre des Zentralkomitee. In diesem Zusammenhang wurde er von seiner Tätigkeit als KGB-Chef befreit (Chef des sowjetischen Sicherheitsdienstes ist heute der 63jährige Ukrainer Witalij Fedortschuk, der jedoch im Kreml über keine Machtposition verfügt).
Episode im diplomatischen Dienst
Andropow ist heute 68 Jahre alt. Er ist Sohn eines Eisenbahnarbeiters. In seiner Jugend war er Telegrafist und WolgaSchiffer. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs absolvierte er die Hochschule. Während des Kriegs organisierte er den Widerstand im Rücken des Feindes (in Finnland). Er war auch — gleich Breschnjew — Politkommissar an der Front. Nach Kriegsende machte Andropow im Aussenministerium Karriere. In verhältnismässig kurzer Zeit wurde ihm der Botschaftertitel verliehen. Bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 war Jurij Andropow Sowjetbotschafter in Budapest.
Seit 1962 hat Andropow hohe Ämter im Kreml bekleidet. 1962-1967 war er Sekretär des Zentralkomitees. 1967 bis etwa Mitte 1982 nahm er den Posten des KGB-Chefs ein.
Soweit sich beurteilen lässt, ist Andropow ein nüchterner Pragmatiker. Um seine Machtposition im Kreml zu festigen, wird er sich ‹ jedenfalls in der Anfangsperiode ‹ zum Prinzip der “kollektiven Leitung” im Politbüro bekennen. Unter den heutigen Politbüro-Mitgliedern scheint Andropow wohl der begabteste und intelligenteste zu sein. Hohe Beamte des State Department, die in der Kissinger-Ära Moskau-Reisen unternahmen und die Kreml-Herren persönlich kennen, halten auf Andropow grosse Stücke. Jurij Andropow kennt sich in aussenpolitischen fragen gut aus. Er spricht mehrere Fremdsprachen (darunter Englisch).
In westlichen Diplomatenkreisen wird zuweilen die Ansicht geäussert, Andropow werde sich früher oder später als Liberaler entpuppen. Diese Prognose ist mit Vorsicht aufzunehmen. Schliesslich war Andropow 1956 Sowjetbotschafter in Budapest — zu einer Zeit, da bei Unterdrückung des Volksautfstands durch Sowjettruppen etwa 25.000 Ungarn ums Leben kamen. Höchstwahrscheinlich sind Andropow Flexibilität und Scharfsinn eigen. Man sollte aber Flexibilität nicht einer liberalen Haltung gleichsetzen.
Schweres Erbe
Breschnjew hat seinem Nachfolger kein leichtes Erbe hinterlassen. Wenn es auch Leonid Breschnjew in den letzten 12-15 Jahren gelungen ist, die UdSSR als Militärmacht bedeutend zu stärken, so hat er dafür einen enormen Preis zahlen müssen. Die sowjetische Landwirtschaft ist in Verfall geraten. Infolge von vier aufeinanderfolgenden Missernten ist die UdSSR in steigendem Mass auf Getreidelieferungen aus Übersee angewiesen. Die Sowjetunion schuldet dem Westen 20 Milliarden Dollar. Die Industrieproduktion der UdSSR stagniert. Unzulängliche Ergebnisse lassen sich in den wichtigsten Industriezweigen beobachten (z.B im Maschinenbau, in der Stahlerzeugung u.a.m.). Die sowjetische Computer-Industrie ist — im Vergleich zum Westen und zu Japan — um ein Beträchtliches zurückgeblieben.
Breschnjews Expansionspolitik hat in den letzten Jahren eine Reihe von Fiaskos erlitten. Der schon fast drei Jahre währende Krieg in Afghanistan ist völlig aussichtslos. Ein sowjetischer Sieg ist kaum denkbar. Dieses Abenteuer der Kreml-Falken hat das sowjetische Prestige in den Ländern der dritten Welt geschwächt. Polen ist zu einem fast unlösbaren Problem geworden. Die tiefe Angst der bisherigen Kreml-Führung vor einer neuen sozial-politischen Entwicklung in Osteuropa und im eigenen Land führt in eine Sackgasse, in der es ausser Anwendung militärischen Drucks keine anderen Mittel zur Lösung innerer Probleme gibt. Im Nahen Osten hat sich der Einfluss der Sowjetunion in den letzten fünf Jahren beträchtlich vermindert.
Harte Nuss für Washington
Es ist anzunehmen, dass Jurij Andropow — nach anfänglicher Stabilisierung seiner Machtposition — auf innenpolitischem Gebiet vorsichtig Wirtschaftsreformen wagt. Gewisse Elemente des ungarischen Wirtschaftmodells konnten hierbei als Kriterien dienen.
In aussenpolitischer Hinsicht kann es fast als sicher gelten, dass sich Andropow um eine sowjetisch-chinesische Annäherung bemühen wird. Er wird auch eine Stabilisierung der Situation in Osteuropa anstreben (den Polen wird er unter Umständen Budapester Wirtschaftsrezepte empfehlen) und die gegenwärtigen Versuche fortsetzen, zwischen Westeuropa und die Vereinigten Staaten einen Keil zu treiben. Washington wird es mit Andropow nicht leicht haben. Eine neue amerikanisch-sowjetische Détente lässt sich in absehbarer Zukunft kaum erwarten.
Andropow könnte eventuell zum Sowjetführer der achtziger Jahre werden. Erst danach würden Vertreter einer jüngeren Generation in die politische Arena treten.
L.K.
[Aufbau Nov. 19, 1982. p.1]