Sowjetische Fehlrechnung in Afghanistan
Über drei Jahre sind seit der sowjetischen militärischen Intervention in Afghanistan vergangen. Die Bilanz muss für den Kreml deprimierend sein. Nach Angaben westlicher Beobachter sind die etwa 100.000 Mann starken sowjetischen Besatzungstruppen lediglich imstande, die wichtigsten Städte und Verkehrswege des Landes zu kontrollieren. An Kampfaktionen gegen die afghanischen Guerillas nehmen — ausser den Sowjetruppen — auch Truppenverbände aus Kuba, Vietnam, der DDR, der Tschechoslowakei und Bulgarien teil. Zehntausende Soldaten der afghanischen Armee sind zu den islamischen Rebellen übergelaufen. Trotz aller den Sowjets verfügbaren modernster Militärtechnik ist es ihnen in den letzten drei Jahren nicht gelungen, den bewaffneten Widerstand der unzureichend ausgerüsteten afghanischen Insurgenten zu brechen. Über 80 Prozent des Landes befinden sich in den Händen der moslemischen Aufständischen. In jüngster Zeit fühlen sich die sowjetischen Okkupanten nicht einmal in den grösseren Städten — wie Kabul und Herat — sicher. Die Guerillas attackieren immer häufiger sowjetische Militäreinrichtungen. Auch die Zahl der Sabotageakte in den Städten nimmt ständig zu. Nach zuverlässigen Angaben belaufen sich die Verluste der sowjetischen Besatzungsarmee auf mindetens 5.000 Gefallene und 10.000 Verletzte.
Weit über drei Millionen Afghanen leben in Flüchtlingslagern in Pakistan und im Iran und von der afghanischen Zivilbevölkerung sind bei sowjetischen Luftangriffen Hunderttausende ums Leben gekommen.
Schon 1953 begann die UdSSR damit, die afghanische Armee auszurüsten und höhere afghanische Offiziere in der Sowjetunion auszubilden. Der erste prosowjetische Putsch (1973), von hochgestellten afghanischen Militärs in Szene gesetzt, bereitete der Monarchie ein schnelles Ende. Mohammed Daud, der 1973-1978 Präsident der Republik Afghanistan war, bemühte sich in seiner Aussenpolitik einerseits der UdSSR gegenüber Loyalität zu wahren, andererseits jedoch die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Landes zu sichern. In seiner Innenpolitik verfolgte Daud die afghanischen Marxisten in nicht geringerem Mass als die islamischen Fundamentalisten. Gleichzeitig führte er Geheimverhandlungen mit dem Iran, Saudiarabien und Japan. Am 27. April 1978 wurde Daud nebst vielen seiner Anhänger im Verlauf eines neuen Staatsstreichs ermordet.
Sein Nachfolger am Hebel der Macht wurde nun Noor Mohammed Taraki, ein prosowjetischer Kommunist. Offensichtlich glaubte der Kreml damals, dass in einem Lande, in dem Staatsstreiche und “Palastrevolutionen” keinen Seltenheitswert hatten, ein neuer Umsturz von der Bevölkerung mehr oder weniger duldsam hingenommen werden würde. Dabei übersahen die Kreml-Strategen allerdings die Tatsache, dass die afghanischen Putschisten es bisher stets vermieden hatten, die traditionelle Lebensweise der aus Angehörigen verschiedenartiger Stämme bestehenden Landesbevölkerung anzutasten.
Schon Ende der siebziger Jahre wurde die zwischen den beiden afghanischen kommunistischen Fraktionen (Khalq und Parcham) herrschende Feindschaft für den Kreml zu einem beunruhigenden Störelement. Die Khalq-Kommunisten strebten einen afghanischen Nationalkommunismus an, während die Parcham-Leute totale Moskau-Hörigkeit bekundeten. Die Sowjetführung glaubte damals noch an die Möglichkeit eines Burgfriedens zwischen den beiden. Auf Moskaus Initiative wurde Anfang 1978 die sogen. “Volksdemokratische Partei” (VDP) gegründet, die die beiden kommunistischen “Bruderorganisationen” vereinigen sollte. Die VDP zählte 1978 jedoch nur etwa 2.500 Mitglieder — bei einer Gesamtbevölkerung des Landes von ca. 20 Millionen.
Taraki vertrat die Parcham-Fraktion. Sein Gegenspieler war Amin, Führer der Khalq-Fraktion. Moskau setzte zunächst auf Taraki, konnte aber nicht verhindern, dass die moskauhörigen Parcham-Kommunisten von ihren Rivalen verfolgt, gefoltert und ermordet wurden. Dem von den afghanischen Kommunisten entfesselten Terror fielen sowohl Taraki als auch Amin zum Opfer. Moskau sah sich damals, im Dezember 1979, genötigt, Babrak Karmal, eine sowjetische Marionette, ins Spiel zu bringen. Das zeigte sich, als Karmal, auf Moskaus Geheiss den Kreml um die Gewährung “brüderlicher Hilfe” und damit um die Entsendung sowjetischer Truppen ersuchte.
Ende Dezember 1979 stand die sowjetische Führung vor der Alternative — entweder das völlige Fiasko des afghanischen Abenteuers zuzugeben und jegliche Hoffnung auf Befriedung und Sowjetisierung des Nachbarlandes endgültig aufzugeben oder aber in Afghanistan militärisch zu intervenieren.
Heute weiss man, wie fatal Moskaus Fehlrechnung in Afghanistan war. Die oft als pragmatisch bezeichnete Sowjetführung versagte, weil sie nicht in der Lage war, die Mentalität und die historischen Traditionen der Mohammedaner Afghanistans richtig einzuschätzen. Dieses sowjetische Fehlurteil mag seinen Grund auch teilweise darin haben, dass die Kreml-Strategen glaubten, zwischen dem Widerstand der Afghanen und dem fünfzig Jahren zurückliegenden Kampf der sowjetischen Bevölkerung Mittelasiens eine historische Parallele ziehen zu können. Moskau rechnete damit, dass die straff zentralisierte kommunistische Regierung in Kabul ohne weiteres in der Lage sein würde, in verhältnismässig kurzer Zeit den Aufstand der unbotmässigen Stämme zu liquidieren. Die Rechnung ist nicht aufgegangen.
L.K.
[Aufbau Jan. 14, 1983. p.7]