George Orwell und die Sowjetpresse

Ideologische Schlagwörter und ihr Bedeutungswandel in der UdSSR

In dem kurz vor seinem Tode veröffentlichten, weltberühmt gewordenen Roman “1984” schildert der englische Schriftsteller George Orwell (1903-1950) einen allumfassenden Totalitarismus der Zukunft, der die geistigen Bestrebungen des Individuums knebelt und unterjocht. Obwohl Orwells Roman von den extrem rechten Kreisen des Westens als antikommunistisches Werk gepriesen wurde, handelte es sich um eine Missdeutung der eigentlichen Absichten des britischen Erzählers. Sein Roman “1984” ist gegen den Totalitarismus jeglicher Spielart gerichtet. George Orwell war bis zu seinem Lebensende demokratischer Sozialist.
Seine Bücher sind in der Sowjetunion verboten. Sowjetbürger (mit Ausnahme einzelner hochgestellter Parteifunktionäre) haben keinerlei Möglichkeit, die Romane dieses “ideologisch gefährlichen” westlichen Schriftstellers zu lesen. Umso erstaunlicher ist die Erwähnung von Orwells Roman “1984” in der Moskauer Wochenzeitung “Literaturnaja Gaseta” (Literaturzeitung). Am 26. Januar d.J. begann der politische Beobachter des Blattes, Vitalij Kobysch, einen seiner zahlreichen antiamerikanischen Artikel folgendermassen: “Der englische Schriftsteller George Orwell, ein berüchtigter Antikommunist, hat vor mehr als 30 Jahren seinen Roman 1984 veröffentlicht. Das Jahr 1984, das heute in greifbare Nähe gerückt ist, war damals noch ferne Zukunft. Orwell, der seiner Phantasie freien Lauf liess, schilderte in seinem Buch einen totalitären Staat, dessen Bürger nichts weiter als Roboter sind. Die in diesem totalitären Staat herrschende Elite hatte einen überaus wirksamen, auf einer widerwärtigen Heuchelei beruhenden Kontrollmechanismus geschaffen, der der Aufrechterhaltung der Despotie diente. Die Herrscher des Landes, die ständig Krieg führten oder Kriegsvorbereitungen trafen, hatten ihr Kriegsministerium zum Friedensministerium umbenannt. Das sog. Wahrheitsministerium war nur darauf bedacht, Lügen in Umlauf zu setzen”.
Aufschlussreich ist die Tatsache, dass der sowjetische Journalist die Grundgedanken von Orwells Roman keineswegs verfälscht. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die sowjetischen Massenmedien das in der UdSSR herrschende Regime — ungeachtet der Unterdrückung jeglicher nichtkonformer Strömungen — als durchaus “demokratisch” bezeichnen. Die UdSSR, die Tschechoslowakei, die DDR und die anderen Länder des Sowjetblocks sind demnach “Demokratien” und haben angeblich mit Totalitarismus nichts gemein. Als totalitäre Staaten gelten in der UdSSR nur rechte Diktaturen.
In dem genannten Auszug aus der “Literaturnaja Gaseta” schreibt Kobysch gelassen und gleichmütig über die in Orwells Roman dargestellte Elite, die auf heuchlerische Weise ihre Bürger unterdrückt. Den sowjetischen Beobachter kümmert es offenbar kaum, dass manch kritisch gesinnter Sowjetleser die in Orwells “1984” beschriebene Unterdrückung und Heuchelei mit den in der UdSSR bestehenden Verhältnissen in Verbindung bringen könnte.
In Kobyschs Artikel wird ferner Ronald Reagan mit den von Orwell beschriebenen Herrschern des totalitären Staates verglichen, die ihre Zeit damit verbringen, Kriegsvorbereitungen zu treffen. In dem Kommentar der Moskauer Wochenzeitung wird dem US-Präsidenten sein gesamtes “Sündenregister” vorgehalten. Vertreter der Reagan-Regierung haben allerdings tatsächlich über einen “begrenzten Nuklearkrieg” sowie einen “gewinnbaren Atomkrieg” gesprochen. Durch dieses Gerede haben Reagan und seine Leute die Stimmung in Westeuropa (insbesondere in der Bundesrepublik) beträchtlich verdüstert. Die Sowjetpresse unterschlägt aber ihren Lesern die Tatsache, dass all diese unbedachten Worte in unmittelbarem Zusammenhang» mit den in buropa stationierten sowjetischen Mittelstreckenraketen SS-20. die auf den Westen gerichtet sind, stehen.
Der sowjetische Durchschnittsbürger, der die Sendungen der BBC oder der “Stimme Amerikas” nicht hört (westliche Rundfunksendungen werden systematisch gestört), begreift nicht, worum es bei den amerikanisch-sowjetischen Atomrüstungsverhandlungen geht. Die Sowjetpresse behauptet, Reagan setze alles daran, “einen Nuklearkrieg zu entfesseln”. Darüber lässt sich auch Vitalij Kobysch aus. Einem geheimen Pentagon-Bericht zufolge, heisst es im Moskauer Wochenblatt, plane “die US-Führung die Vorbereitung und Entfesselung eines Nuklearkriegs und strebe den Sieg in einem solchen Kriege an”. Das Ziel Washingtons sei die Weltherrschaft.
Angesichts der Tatsache, dass sich im US-Kongress sowohl Demokraten als auch Republikaner für eine Kürzung des Militärhaushalts einsetzen und der Reagan-Regierung Inflexibilität Moskau gegenüber vorwerfen, ist es barer Unsinn, zu behaupten, Washington beabsichtige, “in den achtziger Jahren einen Nuklearkrieg zu entfesseln”.
Die Sowjets wissen über die wahre Situation genau Bescheid. Ihnen ist bekannt, dass man sich nicht nur in den USA, sondern auch in den Ländern Westeuropas über die bedrohliche Anzahl der SS-20-Raketen grösste Sorgen macht. Die Sowjetpresse sieht sich aber nicht genötigt, ihre Leser über die wahre Sachlage auf dem laufenden zu halten. Obgleich die UdSSR Mitunterzeichner des Helsinki-Manifests ist, das u.a. die allseitige Information der Bürger der Unterzeichner-Staaten vorsieht, ist das Vertrauen des Kremls seinem eigenen Volke gegenüber derart gering, dass es in den Massenmedien des Landes — nach 65 Jahren Sowjetmacht — keine objektive Infor- mation gibt.
Um die Sowjetpresse richtig zu beurteilen, muss man die spezifische “Semantik” kennen, mit deren Hilfe die Moskauer Propagandisten zahlreiche in der ganzen Welt verbreitete Begriffe umdeuten. So wird z.B. unter “Demokratie” ein System verstanden, in welchem es keine freien Wahlen gibt und einzig und allein die kommunistische Partei die Macht ausübt. Gelegentlich spricht die Sowjetpresse von “bürgerlicher Demokratie”, die dem Untergang geweiht sei.
Als “aggressiv” bezeichnen Sowjetjournalisten die Politik der Vereinigten Staaten, die nicht bereit sind, dem Moskauer Kurs zu folgen.
Der Begriff “Kräfte des Friedens und Fortschrittes” ist in den sowjetischen Massenmedien ein Synonym für prosowjetische Gesinnung.
Wenn man in den TASS-Kommentaren, in der “Prawda” oder “Iswestija” auf das Wort “Verleumdung” stösst, kann man sicher sein, dass es sich um Kritik an Moskau handelt.
Von grösster Bedeutung für die objektive Beurteilung der Sowjet-Information ist die Tatsache, dass es ausser dem für den Durchschnittsbürger bestimmten TASS (Telegraphenagentur der Sowjetunion) auch einen sog. “Weissen TASS” und sogar einen “Roten TASS” gibt. Der “Weisse TASS” ist weniger zensiert und enthält verhältnismässig zahlreiche Berichte westlicher Nachrichtenagenturen (Associated Press, UPI, Reuters u.a.). Dieser “Weisse TASS” steht hochgestellten Apparatschiks zur Verfügung. Für Mitglieder des Politbüros und des Zentralkomitees ist der “Rote TASS” bestimmt, der nicht nur die wichtigsten Meldungen westlicher Presseagenturen, sondern auch Kommentare bekannter Beobachter der grössten amerikanischen, britischen, französischen, westdeutschen u.a. Zeitungen beinhaltet.
Was jeder Amerikaner, Engländer oder Bundesbürger sich für etwa 30 Cent leisten kann (wenn er z.B. die “New York Times”, die Londoner “Times” oder etwa “Die Welt” kauft), ist in der Sowjetunion ein höchstes Machtprivileg, das nur Mitgliedern des Politbüros oder des Zentralkomitees eingeräumt wird. Mehr als 99 Prozent der Sowjetbevölkerung müssen sich mit den üblichen Machwerken der Sowjetpropaganda zufriedengeben.

L.K.

[Aufbau Mar. 11, 1983. p.7]

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