Alexander Sinowjews “Homo Sovieticus”

Eine Analyse der sowjetischen Mentalität

Alexander Sinowjew — noch vor einigen Jahren Professor für Logik und andere philosophische Sparten an der Moskauer Universität — lebt heute im Exil. Der Grund hierfür lag darin, dass er es riskierte, das Sowjetregime einer tiefgreifenden logischen Analyse zu unterziehen und hierdurch die Gesetzmässigkeiten der Existenz und des Funktionierens des Regimes blosszulegen. In seinen im Westen erschienenen und in die meisten europäischen Sprachen übertragenen Werken “Die lichte Zukunft”, “Die klaffenden Höhen” u.a. erforscht Sinowjew auf höchst originelle Weise bisher nur wenig beachtete psychologische und soziologische Wesenszüge der Sowjetgesellschaft. Die Sowjets reagierten auf dieses “dreiste Unterfangen” des Regimekritikers schnell und resolut. Sinowjew wurde ins westliche Zwangsexil gedrängt. Heute lebt und wirkt er in München. Sein jüngstes Werk, das bisher nur in der russischen Originalfassung erschienen ist, trägt den Titel “Homo Sovieticus” (Gomo sowetikus*).
“Homo Sovieticus” ist ein belletristisch-philosophisches Meisterwerk. Es darf angenommen werden, dass dieses jüngste Werk des Verfassers demnächst ins Deutsche, Englische und Französische übersetzt werden wird.
Das stilistische Genre des Buches ist nicht eindeutig. Seine philosophischen Betrachtungen sind mit Anekdoten, Denksprüchen und Aphorismen durchsetzt und bilden ein kompliziertes, wenn auch zuweilen widersprüchlich Ganzes.
Die Symbolfiguren des “Homo Sovieticus” leben in einer Grosstadt-Pension in der Bundesrepublik Deutschland. Figuren des Werkes sind fast ausschliesslich sowjetische Dissidenten. Es ist die Absicht des Verfassers, den Leser davon zu überzeugen, dass auch diesen Regimekritikern, die ihre Heimat verlassen haben, viele Wesenszüge der sowjetischen Mentalität anhaften. In manchen Fällen offenbart sich die Sowjetnatur der im Buche dargestellten Emigranten ungeachtet der von ihnen kategorisch vertretenen antikommunistischen Ansichten. Sie beschuldigen sich gegenseitig, im Dienst des sowjetischen Geheimdienstes zu stehen. Nicht immer gelingt es dem Leser, die Frage zu klären, in welchem Geheimdienst die einzelnen Pensionsbewohner stehen. Auch die Namen der Personen sind symbolisch, wie z.B. “Zyniker”, “Enthusiast”, “Kritiker”, “Spöttler” u. dgl. Die Erzählung wird in der Ich-Form vorgetragen. Sinowjew nimmt das Risiko auf sich, sich selbst mit Ironie zu behandeln. Die spöttisch betrachtete Ich-Figur ist die Zentralgestalt des “Homo Sovieticus”.
Während sich in Sinowjews früheren Werken die Handlung in der Sowjetunion (meist in Moskau) abspielt, wird hier das Leben im Exil dargestellt. In Sinowjews grotesker, satirischer Darstellung des Geschehens und des Denkens der Dissidenten offenbart sich — sowohl in getarnter als auch in ungetarnter Form — das Wesen des “Homosos” (Sinowjews Kürzel für “Homo Sovieticus”).
Zu den Eigenschaften des Sowjetmenschen (in der Heimat und im Exil) gehören nach Sinowjew: Selbstzufriedenheit und kategorische Rechthaberei, Ignorierung und Missachtung fremder Sitten, fremder Ansichten u.a.m. Hieraus ergibt sich eine kuriose Erscheinung. Die im Westen befindlichen sowjetischen Regimekritiker verachten den Westen und dessen Kultur. Leider beziehen sich diese Beobachtungen Sinowjews nicht nur auf die einzelnen Dissidenten, sondern auch auf breitere russische Emigrantenkreise. Recht häufig heisst es da: “Der Westen hat nicht die geringste Ahnung vom Sowjetregime. Nur wir wissen, wie sich eine effektive antikommunistische Politik betreiben lässt”.
Sinowjews Pensionsbewohner lesen nicht Schriften westlicher Schriftsteller, besuchen keine westeuropäischen Museen. Höchstens wird irgendein “kitschiger” westlicher Film erwähnt. Es lässt sich annehmen, dass die den Film kritisierenden Gesprächspartner — wegen mangelnder Sprachkenntnis — gar nicht verstanden haben, worum es im Film ging. Die im “Homo Sovieticus” dargestellten Helden beurteilen den Westen, ohne ihn zu kennen, ohne die Sprache ihrer neuen Heimat ausreichend zu beherrschen. Sinowjews “Homines Sovietici” sprechen verallgemeinernd voller Verachtung über die “inhaltsleere, verdummende westliche Kultur”.
In Sinowjews Darstellung ist die Arroganz des Sowjetmenschen mit einer ewigen, tiefsitzenden Angst durchaus vereinbar. Der sowjetische Exil-Gelehrte Michail Geller, der heute an der Pariser Sorbonne tätig ist, hat in diesem Zusammenhang in einer jüngst erschienenen Beilage des russischen Emigrantenblattes “La Pensee Russe” geschrieben: “In der Weltliteratur gibt es wohl kein zweites Werk, das die Angst des Sowjetmenschen so intensiv zum Ausdruck bringt. Der ‘Homosos’ fürchtet sich im Westen vor den gleichen Dingen, die ihn in der Heimat ängstigten. Hinzu kommt aber eine neue Furcht — den ‘Homosos’ schrekken all die neuen Erscheinungen, die er in der Heimat nicht kannte”.
Unter den Ängsten des “Homo Sovieticus” zeigt der Verfasser die Furcht vor der Freiheit, vor der individuellen Entscheidung. Zuweilen empfindet der “Homosos” Heimweh. Voller Sehnsucht denkt er dann an das “sowjetische Kollektiv”, wo es weniger Probleme gab, da man ja selbst keine Entscheidungen zu treffen hatte. Alexander Sinowjews jüngstes Werk liefert einen wichtigen Beitrag zum tieferen Verständnis der sowjetischen Mentalität. In dieser Hinsicht ist das Buch nicht nur von psychologisch-philosophischer, sondern auch von erstrangiger politischer Bedeutung.

L.K.

*) Alexander Sinowjew. “Gomo sowetikus” (russische Originalfassung). Verlagsanstalt L’Age d’Homme Lausanne 1982.

[Aufbau Apr. 1, 1983. p.3]

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