Westliche Illusioner und sowjetische Tatsachen
Der britische Dokumentarfilm “Ten Days That Shook the World”, der auch vom amerikanischen Fernsehen übernommen wurde, unterstreicht überzeugend Lenins meisterhafte, bis ins kleinste Detail genau berechnete revolutionäre Taktik, die die proletarische Oktoberrevolution in Russland ermöglichte. Dem demokratisch gesinnten Idealisten Alexander Kerenskij, der im Juli 1917 zum Ministerpräsidenten der provisorischen Regierung ernannt wurde, hingegen fehlte das taktische Können. In den entscheidenden Monaten nach dem Sturz des Zaren waren Kerenskij und seine Freunde dem rücksichtslosen Realpolitiker Wladimir Lenin unterlegen.
Kurz nach dem Sieg der Oktoberrevolution und in den Jahren des Bürgerkriegs in Russland (1918-1920) war es durchaus, verständlich, dass führende Staatsmänner der USA, Englands und Frankreichs an der Stabilität der Sowjetmacht zweifelten und auf ein baldiges Ende der von den Bolschewisten ausgeübten “Diktatur des Proletariats” hofften. Ungeachtet zahlreicher illusionärer Voraussagen seitens prominenter westlicher Politiker, Sowjetologen und russischer Exil-Theoretiker besteht jedoch die Sowjetmacht schon seit über 65 Jahren. In den letzten 15-18 Jahren ist es der UdSSR sogar gelungen, zu einer Supermacht zu werden, die strategische Parität mit den Vereinigten Staaten erreicht hat. Wenn führende westliche Staatsmänner heute das baldige Debakel des Sowjetimperiums prophezeien, lässt das auf einen Mangel an Realitätssinn schliessen. Obwohl der Wunsch zweifellos häufig der Vater des Gedankens ist, wirken sich derartige Illusionen störend auf die Effektivität der amerikanischen Politik gegenüber Moskau aus. Präsident Reagans Rede vor dem britischen Parlament am Juni 1982, in der er (angesichts der polnischen Krise) den Sturz des Sowjetregimes voraussagte, lässt darauf schliessen, dass Ronald Reagan und seine aussenpolitische Berater über das Wesen der Sowjetmacht und die Geschichte der Sowjetunion nur unzulänglich informiert sind. Sie berücksichtigen offenbar nicht die unbestreitbare Tatsache, dass es den Kremlherren im Verlauf von mehr als 60 Jahren gelungen ist, Lenins taktische Lehren über die “Konsolidierung der Sowjetmacht” zu verwirklichen.
Obwohl sich in der Geschichte der UdSSR verschiedene Perioden (Kriegskommunismus, Stalinismus, Chruschtschews “Tauwetter”, Globalpolitik unter Breschnjew und die neue Andropow-Ära) erkennen lassen, ist Lenins Vermächtnis — kompromisslose Machtausübung durch den Kreml — nie in Frage gestellt worden.
Seit Anfang der fünfziger Jahre gehört die Situation in Osteuropa zu den konstanten Sorgen der Sowjetführung. Rebellionen oder “Unbotmässigkeiten” lösten sich in den meisten Satellitenländern gegenseitig ab (1953 in Ost-Berlin, 1956 in Ungarn, “Prager Frühling” d.J. 1968 und schliesslich die polnische “Solidaritäts”-Bewegung seit August 1980). In der DDR und in Ungarn setzten die Sowjets — zur blutigen Niederschlagung der Aufstände — ihre eigenen Truppen ein. Um dem Prager Reformsozialismus ein Ende zu bereiten, hielt es Moskau für erforderlich — aufgrund der sog. “Breschnjew-Doktrin” — zusammen mit den Streitkräften von vier anderen Warschau-Pakt-Ländern (DDR, Bulgarien, Ungarn und Polen) die Tschechoslowakei zu besetzen. Als 1980-1981 in Polen die Zahl der “Solidaritäts”-Mitglieder etwa 10 Millionen erreichte und viele westliche Kremlinologen eine sowjetische Invasion Polens für unvermeidlich hielten, griff der Kreml zu einer neuen Taktik — Unterdrückung der polnischen Arbeiterbewegung durch die Schaffung der polnischen Militärjunta General Jaruzelskis.
Nachdem die Hoffnung der ungarischen Insurgenten auf wirksame Hilfe seitens des Westens sich als bittere Illusion erwiesen hatte, bestand für die Kremlführung kein Zweifel, dass sie in Osteuropa nach eigenem Ermessen schalten und walten könne. Eine eindeutige Bestätigung dieser Erkenntnis lieferte die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki, in der die sowjetischen Nachkriegsgrenzen in Osteuropa international anerkannt wurden.
Die Sowjetführung unternahm weder in der Tschechoslowakei noch in Polen übereilte Aktionen. Die Meistertaktiker des Kremls liessen sich Zeit, um eine “optimale” Handlungsweise für jede gegebene Situation zu erarbeiten. Im Gegensatz zu der taktischen Bedachtsamkeit des Kremls hatten es sowohl die Prager Reformpolitiker als auch die Führer der polnischen “Solidaritäts”-Bewegung allzu eilig. In ihrem menschlich und psychologisch verständlichen Eifer begingen sie eine Reihe von schweren taktischen Fehlern: So kam es in der Tschechoslowakei trotz vielfacher moskautreuer Erklärungen des Dubcek-Regimes zu einer Reihe von unvorsichtigen Aktionen (die Veröffentlichung der “2000 Worte”, worin die Abschaffung der Zensur gefordert wurde; unverhohlen antisowjetische Äusserungen der mit Dubcek verbündeten Reformpolitiker u.a.m.). Die Prager Enthusiasten waren der sowjetischen Führung in taktischer Hinsicht nicht gewachsen.
Auch in Polen, wo die “Solidaritäts”-Bewegung offiziell schon anerkannt worden war, kam es kurz vor der Verkündung des Kriegsrechts zu unbedachten antisowjetischen Auslassungen und zur Veröffentlichung einer Reihe von Schriften, die den Kreml in höchste Unruhe versetzten. Lech Walesa war nicht imstande, die Hitzköpfe in der Bewegung im Zaum zu halten; dazu war es auch zu spät, denn Ende 1981 hatte Moskau seine Entscheidung schon getroffen.
Im Ostblock bildet Janosch Kadar eine Ausnahme. Weil er als Taktiker den Sowjetführern ebenbürtig ist, ist es ihm gelungen, seine Reformpolitik in die Tat umzusetzen.
Sowjetemigranten der jüngsten Zeit, unter denen sich Soziologen, Historiker und Publizisten finden, haben es (mit Ausnahme des Schriftsteller Alexander Sinowjew) dem Westen nicht leichter gemacht, sein Verständnis der Kremlpolitik zu vertiefen und zu vervollkommnen. Der Nobelpreisträger Alexander Solschenitsyn kritisiert den westlichen Pluralismus und strebt in Russland die Schaffung einer religiös-autoritären Gesellschaft an. Und der vor einigen Jahren bei einem Autounfall umgekommene bekannte russische Regimekritiker Andrej Amalrik bestand darauf, dass ein sowjetisch-chinesischer Krieg unvermeidlich sei. In seiner vielbeachteten Schrift “Wird die Sowjetunion 1984 noch existieren?” prophezeite Amalrik den Untergang des Sowjetimperiums. Auch diese Voraussage war auf Sand gebaut.
Zweifellos stimmen die Berichte westlicher Korrespondenten über die ständigen Warenknappheiten und andere Wirtschaftsschwierigkeiten in der UdSSR. Trotz des relativ niedrigen Lebensstandards der Sowejtbürger ist nicht zu übersehen, dass es in der UdSSR keinen Hunger gibt und dass beispielsweise Bildung und die gesundheitliche Betreuung dem Sowejtbürger kostenlos geliefert werden. Dass es dem Kreml bisher stets gelungen ist, mit seiner permanenten Wirtschaftsmisere (oft mit westlicher Hilfe) fertig zu werden, sollte den Westen veranlassen, eine realistische, illusionsfreie Vorstellung von der UdSSR zu entwickeln.
L.K.
[Aufbau. May. 20, 1983. p.8]