Gibt es eine “russische Mafia” in den US
Immer mehr amerikanische Zeitungen bringen sensationelle Berichte über ein angeblich weitverbreitetes Netz sowjetjüdischer Mafia-Banden in den Vereinigten Staaten. Die Atmosphäre eines zweiten Kalten Kriegs hat dazu beigetragen, einzelne schwere Verbrechen, die jüngst von Sowjetimmigranten begangen wurden, aufzubauschen und die etwa 100.000 in den letzten 5-10 Jahren nach den USA eingewanderten “Russen” schlechtweg zu verunglimpfen. Den Auftakt zu dieser gegen sowjetjüdische Immigranten gerichteten Hetzkampagne hat Devill Gates gegeben, der Polizeichef von Los Angeles. Auf einer Pressekonferenz gab Gates der Befürchtung Ausdruck, die Olympischen Sommerspiele 1984, die bekanntlich in Los Angeles stattfinden werden, stünden in Gefahr, von “sowjetischen Agenten” torpediert zu werden. Herr Gates machte kein Hehl daraus, wen er als “Kreml-Agenten” betrachte. Seiner Meinung nach habe Moskau die Massenauswanderung aus der UdSSR dazu benutzt, eine “russische Mafia” einzuschleusen (selbstverständlich sprach der kalifornische Polizeichef nicht von Juden, sondern von “Russen”; doch ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass seit 1972 die Auswanderer aus der UdSSR fast durchweg Juden sind). Gates teilte den Korrespondenten kalifornischer Zeitungen mit, die “russische Mafia” habe sich in Brighton Beach (Brooklyn) und in Los Angeles eingenistet. Allein in Los Angeles gebe es unter den Sowjetimmigranten — Gates zufolge — 20 Kriminelle (Mörder, Diebe, Hochstapler usw.).
Das Interview des Polizeichefs von Los Angeles wirbelte im ganzen Land viel Staub auf. Donald Halperin, New Yorker Staatssenator in Albany, sandte ein Protestschreiben an den damaligen Aussenminister Alexander Haig. Andrej Sedych, Chefredakteur der in New York erscheinenden russischsprachigen Tageszeitung “Novoye Russkoye Slovo”, veröffentlichte einen Artikel, in dem er sich gegen unbegründete Verallgemeinerungen wandte, die darauf abzielten, die etwa 100.000 Flüchtlinge aus der UdSSR in Verruf zu bringen. Hierbei stellte Andrej Sedych, der selber jüdischer Herkunft und einer der Ehrenvorsitzenden der philanthropischen Organisation ORT ist, keineswegs in Abrede, dass der sowjetische Sicherheitsdienst, der KGB, höchstwahrscheinlich einzelne Agenten in die USA (sowie nach Israel) engeschleust habe. Sedychs Artikel wurde ins Englische übersetzt und Jerry Brown, dem damaligen Gouverneur des Bundesstaates Kalifornien, übersandt. Die Gerüchte über eine “russische Mafia” wurden in Kalifornien gestoppt; Gates begriff, dass er durch seine Sensationshascherei über die Stränge geschlagen hatte. Er unternahm den ungeschickten Versuch, seine Worte über eine womögliche “Torpedierung” der Sommer-1984-Olympiade zu bagatellisieren. Man habe ihn nicht recht verstanden. “Natürlich” hätte er nur einzelne Personen, nicht aber die gesamten sowjetjüdischen Einwanderer im Auge gehabt. Übrigens sei hier vermerkt, dass die von Gates erwähnten zwanzig Verbrecher sich als unauffindbar erwiesen — es wurde keine einzige Verhaftung vorgenommen, keiner der angeblichen sowjetjüdischen Verbrecher wurde vor Gericht gestellt. Gates sah sich schliesslich genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen.
Doch das fatale Wort von der “russischen Mafia” war schon gefallen. Im Februar d.J. veröffentlichte die “New York Times” einen Text über eine angeblich in Brighton Beach (Brooklyn, N.Y.) ihr Handwerk betreibende “russische Maifa”. Der Korrespondent der “Times” stützte sich in seiner Reportage auf ein Gespräch mit einem FBI-Offizier namens Murphy und einem örtlichen Polizisten, der angeblich der russischen Sprache kundig ist. In Brighton Beach, behauptete Herr Murphy, gebe es etwa 200 aus der UdSSR stammende kriminelle Elemente unter den zirka 25.000 dort ansässigen sowjetjüdischen Flüchtlingen. Der FBI-Mann weigerte sich, irgendwelche Namen zu nennen, da sich die Fälle zurzeit im Untersuchungsstadium befänden. Es handle sich zuweilen um schwere Verbrechen. Genaue Tatbestände liessen sich bisher nicht nachweisen. Wie dem auch sei, 200 Kriminalfälle unter einer Gesamtbevölkerung von 25.000 machen nur 0,8 Prozent aus. So ein Prozentsatz ist bedeutend geringer als die allamerikanische Verbrechensquote. In der “New York Times” figurierte nur ein Name — Jurij Brochin. Am 5. Dezember 1983 wurde Brochin in seiner Manhattaner Wohnung tot aufgefunden. Er war Verfasser zweier ins Englische übersetzter Bücher (über den Hintergrund der sowjetischen Sporterfolge sowie über die Moskauer Verbrecherwelt). Einige Monate zuvor war Tanja, Brochins Gattin, in der Badewanne ihrer Wohnung ertrunken (sie wurde in der Wanne voll bekleidet aufgefunden). Sowohl Tanja Brochins seltsamer Tod als auch die Ermordung ihres Gatten sind bisher ein Rätsel geblieben. Es liegen Berichte vor, dass Brochin Rauschgifthandel betrieben habe. Sein bisher unbekannt gebliebener Mörder hat 15.000 Dollar, die sich in einer auf dem Schreibtisch stehenden Schachtel befanden, liegenlassen. Die Art der Schusswunde schliesst Selbstmord aus. Die Polizei nimmt an, es handle sich entweder um einen Racheakt oder um das Interesse gewisser Kreise an der Liquidierung eines allzu gut informierten Immigranten, dessen sensationelle Bücher ins Englische übersetzt worden waren.
Das Schlagwort “russische Mafia” liess auch anderen Zeitungen keine Ruhe. Die Massenmedien hatten Lunte gerochen. Am 24. April griff der “Philadelphia Inquirer” das Thema auf. In seiner Sonntagsbeilage machte ein auf Seite 1 veröffentlichter Artikel, der “A Criminal Element Emerges Amidst Soviet Immigrants” betitelt war, Schlagzeilen. In Philadelphia sind etwa 7.000-10.000 Sowjetjuden ansässig. Sie leben hauptsächlich im Nordosten der Stadt. Die Polizei war in Philadelphia bedeutend vorsichtiger als Herr Gates aus Los Angeles. Laut Angaben John Gallos, eines örtlichen Detektivs, der einer Korrespondentin des “Philadelphia Inquirer” ein Interview gewährte, ist die überwiegende Mehrzahl der in der Stadt wohnenden Sowjetimmigranten ehrlich und arbeitsam, und verstösst nicht gegen die Gesetze ihrer neuen Heimat. Immerhin wurden in den letzten drei Jahren etwa 200-250 Verhaftungen vorgenommen. Es handelte sich hierbei um solche Delikte wie z.B. Diebstahl in Warenhäusern, Schlägereien, Automobilfahrten in betrunkenem Zustand u.a. In 20 Fällen wurden jedoch den Angeklagten schwere Verbrechen zur Last gelegt (Raubüberfall, Brandstiftung, Vergewaltigung, Warenankauf mittels gestohlener Kreditkarten).
Nach Ansicht John Gallos kursieren zwischen Brooklyn und Philadelphia etwa 50 Berufsverbrecher. Der “Philadelphia Inquirer” hat sich nicht damit begnügt, über die nackten Tatsachen zu berichten. Der Ton des Artikels vom 24. April ist durchaus giftig. Die Reportage ist nicht nur gegen die zwanzig Berufsverbrecher aus der UdSSR, sondern indirekt gegen die sowjetjüdische Gemeinschaft in Philadelphia gerichtet. Es wird ausführlich über Vorfälle berichtet, wobei es sich immer wieder herausstellt, dass man vor den “Russen” auf der Hut sein müsse.
Das Monatsblatt “The Philadelphia Journal” wollte bei der sensationslustigen Hetze gegen die Sowjetimmigranten nicht im Rückstand bleiben. Im Mai-Heft dieser Zeitschrift erschien ein von Mike Mallow verfasster Artikel, der “From Russia with Guns” betitelt war. Genannte Zeitschrift bricht alle Rekorde unfairer Sensationslust. Mallow behauptet, ein gewisser Bandit namens Malina sei Chef der “russischen Mafia” in Philadelphia. Das “Journal” der Millionenstadt des Bundesstaats Pennsylvania hat die “Dichtung und Wahrheit” sämtlicher anderer Blätter in puncto “Russische Mafia” bei weitem überflügelt. Malina (buchstäblich “Himbeere” — wahrscheinlich ein Deckname) sei ein gefürchteter Terrorist, dessen unmittelbare Aufgabe es sei, die Olympischen Sommerspiele 1984 zum Scheitern zu bringen. Malina und seine Bandenmitglieder sprechen nicht nur ein entsetzliches Englisch, schreibt das Monatsblatt, sondern “riechen auch wie Russen”. Kommentare sind kaum erforderlich.
Die beiden in Philadelphia erschienenen Artikel hatten höchst unerwünschte Folgen. Herr Winokurow, Direktor eines Klubs für sowjetjüdische Neuankömmlinge in Philadelphia, berichtet: “Die Einwanderer aus der UdSSR sind — nach Veröffentlichung beider Artikel — zu wahren Parias geworden. So z.B. wollten russische Immigranten eine Wohnung mieten. Sobald der Hauswirt herausfand, dass die Unglücklichen aus der UdSSR stammten, weigerte er sich kategorisch, das Gespräch fortzuführen. Er wies das junge Paar aus dem Haus. In einer Lebensmittelhandlung wurde eine Sowjetjüdin gefragt, ob sie aus Russland komme. Nichtsahnend, bejahte die Frau die Frage. Darauf schrie der Ladenbesitzer sie an: “Raus von hier! Mit Russen habe ich nichts gemein”.
Tausende ehrliche, anständige sowjetjüdische Flüchtlinge fühlen sich — der beiden Artikel wegen — gejagt und gehetzt. Der schon erwähnte Chefredakteur Andrej Sedych schrieb dazu noch: “Brighton Beach ist ein Stadtviertel mit einer 25.000köpfigen sowjetjüdischen Flüchtlingsbevölkerung. Ich möchte nichts idealisieren. Nicht jeder Immigrant aus der UdSSR ist ein Freiheitskämpfer. Ich bin davon überzeugt, dass es in Brighton Beach und anderorts hierzulande einzelne KGB-Agenten gibt. Aber in jeder amerikanischen Stadt (und in jedem Stadtteil), wo die Bevölkerung 25.000 Personen beträgt, ist die Mehrzahl der Bürger ehrlich und arbeitsam, aber in den gleichen Städten treiben auch Diebe und Gauner ihr dunkles Handwerk. In jeder amerikanischen Stadtgemeinde mit einer annähernd gleichen Bevölkerungszahl wird es wahrscheinlich 1-2 Mörder geben. Es mangelt auch nicht an Wahnsinnigen und Trunk- und Rauschgiftsüchtigen”.
Andrej Sedych hat taktvoll ausser acht gelassen, dass die infolge des neuen Kalten Kriegs entstandene “Reds-under-the-Beds”-Hysterie einen günstigen Nährboden für derartige Kampagnen bildet.
L.K.
Gibt es eine “russische Mafia” in den US
Immer mehr amerikanische Zeitungen bringen sensationelle Berichte über ein angeblich weitverbreitetes Netz sowjetjüdischer Mafia-Banden in den Vereinigten Staaten. Die Atmosphäre eines zweiten Kalten Kriegs hat dazu beigetragen, einzelne schwere Verbrechen, die jüngst von Sowjetimmigranten begangen wurden, aufzubauschen und die etwa 100.000 in den letzten 5-10 Jahren nach den USA eingewanderten “Russen” schlechtweg zu verunglimpfen. Den Auftakt zu dieser gegen sowjetjüdische Immigranten gerichteten Hetzkampagne hat Devill Gates gegeben, der Polizeichef von Los Angeles. Auf einer Pressekonferenz gab Gates der Befürchtung Ausdruck, die Olympischen Sommerspiele 1984, die bekanntlich in Los Angeles stattfinden werden, stünden in Gefahr, von “sowjetischen Agenten” torpediert zu werden. Herr Gates machte kein Hehl daraus, wen er als “Kreml-Agenten” betrachte. Seiner Meinung nach habe Moskau die Massenauswanderung aus der UdSSR dazu benutzt, eine “russische Mafia” einzuschleusen (selbstverständlich sprach der kalifornische Polizeichef nicht von Juden, sondern von “Russen”; doch ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass seit 1972 die Auswanderer aus der UdSSR fast durchweg Juden sind). Gates teilte den Korrespondenten kalifornischer Zeitungen mit, die “russische Mafia” habe sich in Brighton Beach (Brooklyn) und in Los Angeles eingenistet. Allein in Los Angeles gebe es unter den Sowjetimmigranten — Gates zufolge — 20 Kriminelle (Mörder, Diebe, Hochstapler usw.).
Das Interview des Polizeichefs von Los Angeles wirbelte im ganzen Land viel Staub auf. Donald Halperin, New Yorker Staatssenator in Albany, sandte ein Protestschreiben an den damaligen Aussenminister Alexander Haig. Andrej Sedych, Chefredakteur der in New York erscheinenden russischsprachigen Tageszeitung “Novoye Russkoye Slovo”, veröffentlichte einen Artikel, in dem er sich gegen unbegründete Verallgemeinerungen wandte, die darauf abzielten, die etwa 100.000 Flüchtlinge aus der UdSSR in Verruf zu bringen. Hierbei stellte Andrej Sedych, der selber jüdischer Herkunft und einer der Ehrenvorsitzenden der philanthropischen Organisation ORT ist, keineswegs in Abrede, dass der sowjetische Sicherheitsdienst, der KGB, höchstwahrscheinlich einzelne Agenten in die USA (sowie nach Israel) engeschleust habe. Sedychs Artikel wurde ins Englische übersetzt und Jerry Brown, dem damaligen Gouverneur des Bundesstaates Kalifornien, übersandt. Die Gerüchte über eine “russische Mafia” wurden in Kalifornien gestoppt; Gates begriff, dass er durch seine Sensationshascherei über die Stränge geschlagen hatte. Er unternahm den ungeschickten Versuch, seine Worte über eine womögliche “Torpedierung” der Sommer-1984-Olympiade zu bagatellisieren. Man habe ihn nicht recht verstanden. “Natürlich” hätte er nur einzelne Personen, nicht aber die gesamten sowjetjüdischen Einwanderer im Auge gehabt. Übrigens sei hier vermerkt, dass die von Gates erwähnten zwanzig Verbrecher sich als unauffindbar erwiesen — es wurde keine einzige Verhaftung vorgenommen, keiner der angeblichen sowjetjüdischen Verbrecher wurde vor Gericht gestellt. Gates sah sich schliesslich genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen.
Doch das fatale Wort von der “russischen Mafia” war schon gefallen. Im Februar d.J. veröffentlichte die “New York Times” einen Text über eine angeblich in Brighton Beach (Brooklyn, N.Y.) ihr Handwerk betreibende “russische Maifa”. Der Korrespondent der “Times” stützte sich in seiner Reportage auf ein Gespräch mit einem FBI-Offizier namens Murphy und einem örtlichen Polizisten, der angeblich der russischen Sprache kundig ist. In Brighton Beach, behauptete Herr Murphy, gebe es etwa 200 aus der UdSSR stammende kriminelle Elemente unter den zirka 25.000 dort ansässigen sowjetjüdischen Flüchtlingen. Der FBI-Mann weigerte sich, irgendwelche Namen zu nennen, da sich die Fälle zurzeit im Untersuchungsstadium befänden. Es handle sich zuweilen um schwere Verbrechen. Genaue Tatbestände liessen sich bisher nicht nachweisen. Wie dem auch sei, 200 Kriminalfälle unter einer Gesamtbevölkerung von 25.000 machen nur 0,8 Prozent aus. So ein Prozentsatz ist bedeutend geringer als die allamerikanische Verbrechensquote. In der “New York Times” figurierte nur ein Name — Jurij Brochin. Am 5. Dezember 1983 wurde Brochin in seiner Manhattaner Wohnung tot aufgefunden. Er war Verfasser zweier ins Englische übersetzter Bücher (über den Hintergrund der sowjetischen Sporterfolge sowie über die Moskauer Verbrecherwelt). Einige Monate zuvor war Tanja, Brochins Gattin, in der Badewanne ihrer Wohnung ertrunken (sie wurde in der Wanne voll bekleidet aufgefunden). Sowohl Tanja Brochins seltsamer Tod als auch die Ermordung ihres Gatten sind bisher ein Rätsel geblieben. Es liegen Berichte vor, dass Brochin Rauschgifthandel betrieben habe. Sein bisher unbekannt gebliebener Mörder hat 15.000 Dollar, die sich in einer auf dem Schreibtisch stehenden Schachtel befanden, liegenlassen. Die Art der Schusswunde schliesst Selbstmord aus. Die Polizei nimmt an, es handle sich entweder um einen Racheakt oder um das Interesse gewisser Kreise an der Liquidierung eines allzu gut informierten Immigranten, dessen sensationelle Bücher ins Englische übersetzt worden waren.
Das Schlagwort “russische Mafia” liess auch anderen Zeitungen keine Ruhe. Die Massenmedien hatten Lunte gerochen. Am 24. April griff der “Philadelphia Inquirer” das Thema auf. In seiner Sonntagsbeilage machte ein auf Seite 1 veröffentlichter Artikel, der “A Criminal Element Emerges Amidst Soviet Immigrants” betitelt war, Schlagzeilen. In Philadelphia sind etwa 7.000-10.000 Sowjetjuden ansässig. Sie leben hauptsächlich im Nordosten der Stadt. Die Polizei war in Philadelphia bedeutend vorsichtiger als Herr Gates aus Los Angeles. Laut Angaben John Gallos, eines örtlichen Detektivs, der einer Korrespondentin des “Philadelphia Inquirer” ein Interview gewährte, ist die überwiegende Mehrzahl der in der Stadt wohnenden Sowjetimmigranten ehrlich und arbeitsam, und verstösst nicht gegen die Gesetze ihrer neuen Heimat. Immerhin wurden in den letzten drei Jahren etwa 200-250 Verhaftungen vorgenommen. Es handelte sich hierbei um solche Delikte wie z.B. Diebstahl in Warenhäusern, Schlägereien, Automobilfahrten in betrunkenem Zustand u.a. In 20 Fällen wurden jedoch den Angeklagten schwere Verbrechen zur Last gelegt (Raubüberfall, Brandstiftung, Vergewaltigung, Warenankauf mittels gestohlener Kreditkarten).
Nach Ansicht John Gallos kursieren zwischen Brooklyn und Philadelphia etwa 50 Berufsverbrecher. Der “Philadelphia Inquirer” hat sich nicht damit begnügt, über die nackten Tatsachen zu berichten. Der Ton des Artikels vom 24. April ist durchaus giftig. Die Reportage ist nicht nur gegen die zwanzig Berufsverbrecher aus der UdSSR, sondern indirekt gegen die sowjetjüdische Gemeinschaft in Philadelphia gerichtet. Es wird ausführlich über Vorfälle berichtet, wobei es sich immer wieder herausstellt, dass man vor den “Russen” auf der Hut sein müsse.
Das Monatsblatt “The Philadelphia Journal” wollte bei der sensationslustigen Hetze gegen die Sowjetimmigranten nicht im Rückstand bleiben. Im Mai-Heft dieser Zeitschrift erschien ein von Mike Mallow verfasster Artikel, der “From Russia with Guns” betitelt war. Genannte Zeitschrift bricht alle Rekorde unfairer Sensationslust. Mallow behauptet, ein gewisser Bandit namens Malina sei Chef der “russischen Mafia” in Philadelphia. Das “Journal” der Millionenstadt des Bundesstaats Pennsylvania hat die “Dichtung und Wahrheit” sämtlicher anderer Blätter in puncto “Russische Mafia” bei weitem überflügelt. Malina (buchstäblich “Himbeere” — wahrscheinlich ein Deckname) sei ein gefürchteter Terrorist, dessen unmittelbare Aufgabe es sei, die Olympischen Sommerspiele 1984 zum Scheitern zu bringen. Malina und seine Bandenmitglieder sprechen nicht nur ein entsetzliches Englisch, schreibt das Monatsblatt, sondern “riechen auch wie Russen”. Kommentare sind kaum erforderlich.
Die beiden in Philadelphia erschienenen Artikel hatten höchst unerwünschte Folgen. Herr Winokurow, Direktor eines Klubs für sowjetjüdische Neuankömmlinge in Philadelphia, berichtet: “Die Einwanderer aus der UdSSR sind — nach Veröffentlichung beider Artikel — zu wahren Parias geworden. So z.B. wollten russische Immigranten eine Wohnung mieten. Sobald der Hauswirt herausfand, dass die Unglücklichen aus der UdSSR stammten, weigerte er sich kategorisch, das Gespräch fortzuführen. Er wies das junge Paar aus dem Haus. In einer Lebensmittelhandlung wurde eine Sowjetjüdin gefragt, ob sie aus Russland komme. Nichtsahnend, bejahte die Frau die Frage. Darauf schrie der Ladenbesitzer sie an: “Raus von hier! Mit Russen habe ich nichts gemein”.
Tausende ehrliche, anständige sowjetjüdische Flüchtlinge fühlen sich — der beiden Artikel wegen — gejagt und gehetzt. Der schon erwähnte Chefredakteur Andrej Sedych schrieb dazu noch: “Brighton Beach ist ein Stadtviertel mit einer 25.000köpfigen sowjetjüdischen Flüchtlingsbevölkerung. Ich möchte nichts idealisieren. Nicht jeder Immigrant aus der UdSSR ist ein Freiheitskämpfer. Ich bin davon überzeugt, dass es in Brighton Beach und anderorts hierzulande einzelne KGB-Agenten gibt. Aber in jeder amerikanischen Stadt (und in jedem Stadtteil), wo die Bevölkerung 25.000 Personen beträgt, ist die Mehrzahl der Bürger ehrlich und arbeitsam, aber in den gleichen Städten treiben auch Diebe und Gauner ihr dunkles Handwerk. In jeder amerikanischen Stadtgemeinde mit einer annähernd gleichen Bevölkerungszahl wird es wahrscheinlich 1-2 Mörder geben. Es mangelt auch nicht an Wahnsinnigen und Trunk- und Rauschgiftsüchtigen”.
Andrej Sedych hat taktvoll ausser acht gelassen, dass die infolge des neuen Kalten Kriegs entstandene “Reds-under-the-Beds”-Hysterie einen günstigen Nährboden für derartige Kampagnen bildet.
L.K.
[Aufbau Jun. 3, 1983. p.6]