Schwerwiegende Entscheidungen in der UdSSR?

Plenarsitzung des KP-Zentralkomitees und Tagung des Obersten Sowjets vorverlegt

Dieser Tage meldete die Nachrichtenagentur Reuter aus Moskau, dass in allernächster Zeit das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion einberufen werden solle. Unmittelbar nach der ZK-Plenarsitzung wurde die alljährliche Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR stattfinden. Hochgestellte Beamte des Präsidiums des Obersten Sowjets haben die telephonischen Anfragen westlicher Korrespondenten bezüglich der bevorstehenden Einberufung sowohl des Parteiplenums als auch der Tagung des Obersten Sowjets bestätigt
In Kreisen in Moskau akkreditierter westlicher Diplomaten und Korrespondenten hat nach der von den Sowjets bestätigten Reuter-Meldung ein Rätselraten eingesetzt. Hierbei werden zwei unmittelbar entgegengesetzte Prognosen geäussert. Die einen melden, dass der 53jährige Michail Gorbatschow, der Kronprinz des im Februar verschiedenen Jurij Andropow, an Stelle des siechen und altersschwachen Staats- und Parteichefs Konstantin Tschernenko treten werde. Andere westliche Beobachter nehmen hingegen an, dass Ischernenko im Politbüro und im Zentralkomitee über eine genügende Zahl von Anhängern verfügt, um eine “Rebellion der jungen Garde” abzuwehren.
Die in Moskau befindlichen Westdiplomaten zweifeln aber nicht daran, dass der 79jährige Sowjetpremier Nikolai Tichonow durch einen jüngeren Genossen abgelöst werden dürfte. Tichonow hat in letzter Zeit — auch westlichen Staatsmännern gegenüber — kein Hehl daraus gemacht, dass er beabsichtige, in den Ruhestand zu treten.
Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass beide Tagungen diesen Monat stattfinden sollen. Falls der von der Agentur Reuter angegebene Zeitpunkt der Einberufung beider Tagungen stimmt, handelt es sich um eine Abweichung von einer jahrelangen Tradition der Sowjethierarchie. Die Tagungen des ZK-Plenums und des Obersten Sowjets fanden gewöhnlich Ende November statt. Wegen Jurij Andropows besorgniserregenden Gesundheitszustands wurden im vorigen Jahr beide Tagungen erst Ende Dezember abgehalten.
Warum brechen die Sowjets nun plötzlich mit ihren lang gepflegten Traditionen? Es ist durchaus möglich, dass diese Terminänderung unmittelbar mit den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen und den USPräsidentschaftswahlen zusammenhängt. Präsident Reagan hat mehrfach darauf hingewiesen, dass ein amerikanisch-sowjetisches Gipfeltreffen einfach darum unmöglich sei, weil die Kremlführer — einer nach dem anderen — das Zeitliche segnen.
Ein plausibles Szenario der kommenden Wandlungen im Kreml könnte folgendermassen aussehen: die Wahl des energischen und reformbestrebten Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU könnte — vom sowjetischen Standpunkt aus — Mondales Aussichten bei den Präsidentschaftswahlen erhöhen. Es ist sicher kein Zufall, dass der Kreml beabsichtigt, das ZK-Plenum und die Tagung des Obersten Sowjets vor den amerikanischen Wahlen abzuhalten. Die Wahl eines 53jährigen Pragmatikers zum Parteichef und eines anderen ehemaligen Andropow-Günstlings (Worotnikows oder Alijews) zum Pre mierminister der UdSSR würde endlich die “junge Garde” an die Macht bringen. Das bedeutet keineswegs, dass die Kreml greise ihre Machtposition einbüssen müssten. Der kränkelnde 73jährige Tschernenko würde weiterhin das rein zeremonielle Amt des Sowjetpräsidenten ausüben. Andrej Gromyko hat nichts zu befürchten. Trotz seiner 75 Jahre ist er wohl der erfahrenste Sowjetexperte auf aussenpolitischem Gebiet. Doch würde Gromyko den aussenpolitichen Kurs der UdSSR nicht selbständig bestim men, sondern würde — wie es ja jahr zehntelang der Fall war — die Weisungen des Politbüros ausführen.
Der todkranke Andropow hat es Ende 1983 vermocht, entscheidende Personalän derungen im Politbüro zu vollstrecken. Der Kern der Andropow-Gruppe umfasst fol gende Spitzenpolitiker: Michail Gorbatschow (ZK-Sekretär und Vollmitglied des Politbüros), den ehemaligen KGB-Chef Aserbaidschans Geidar Alijew (zurzeit Voll mitglied des Politbüros und stellvertretender Ministerpräsident der Sowjetunion), den von Breschnjew als Sowjetbotschafter nach Kuba “verbannten” 58jährigen Worotnikow (heute Vollmitglied des Politbüros), und den zu Breschnjews Zeiten in Ungnade gefalle nen Spitzenfunktionär Ligatschow (über 20 Jahre lang Parteisekretär in einem gottverlas senen Gebiet in Sibirien, heute Kandidats mitglied des Politbüros).
Andropow hob die Rivalität zwischen dem KGB und dem Innenministerium des Landes auf. Er ernannte Vitalij Fedortschuk, einen der führenden und besonders gefürchteten KGB-Männer, zum Innenminister der So wjetunion. KGB-Chef wurde der Andropow-Favorit Tschebrikow. Die dominierende Rolle des KGB in der neuen Parteihierarchie hat eine völlig neue Situation geschaffen. Die von Ustinow, dem sowjetischen Verteidigungsminister, unterstützte Verflech tung von Partei und KGB hat die Andropow-Gruppe gestärkt.
Seit Tschernenkos Wahl zum Partei- und Staatschef ist es zu einer Stagnation in der sowjetischen Aussen- und Innenpolitik gekommen. Im letzten Halbjahr zeigte sich die Paranoia der Kremlgreise besonders deut lich. Gromyko & Co. kritisieren gleichzeitig Washington, London, Bonn und Peking und führen sogar einen Propagandakrieg gegen die eigenen Verbündeten — gegen die DDR und Ungarn.
Es häufen sich die Anzeichen, dass die &aumL;ra der Kremlgreise sich ihrem Ende nähert. Die Prawda und die Iswestija beziehen entgegengesetzte Positionen. Dem SED-Führer Erich Honecker wurde bis Anfang August aus Moskau nicht nur die Schelte der Prawda, sondern auch die Schützenhilfe der Iswestija zuteil.
Die Aussichten Michail Gorbatschows, in den kommenden Wochen das Amt des Parteichefs zu übernehmen, werden dadurch gestärkt, dass er sich auf den Apparat des KGB und des Innenministeriums stützen kann. Aus vertrauenswürdigen Moskauer Quellen wird gemeldet, dass in jüngster Zeit Gorbatschows Kandidatur auch von Ver teidigungsminister Marschall Ustinow unter stützt wird. Es war Dmitrij Ustinow, der nach Breschnjews Tod Jurij Andropows Wahl zum Generalsekretär der Partei befür wortete. Auch jetzt könnte der sowjetische Verteidigungsminister als Königmacher auf treten.

Robert Herzenberg

[Aufbau. Oct. 12, 1984. p.1]

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