Jaruzelski wird zur tragischen Figur

Mit der Ermordung des 37jährigen polnischen Priesters Jerzy Popieluszko wird mehr und mehr zur Gewissheit, dass Regierungschef Jaruzelski nicht mehr ist als ein Handlanger Moskaus, dem die Aktionen des Kremls zudem nicht immer zusagen, der sie aber im eigenen Interesse ausführt. Jaruzelski wird so zur tragischen Figur.
Den Moskauer Falken ist die Politik des polnischen Generals nicht genehm. Beispiele für Moskaus Unzufriedenheit gibt es wie Sand am Meer. Konzentrieren wir uns auf ein wichtiges, und zwar die vielschichtige Arbeit der polnischen Untergrundpresse.
Auslandskorrespondenten berichten nur äusserst selten über die polnische Untergrundpresse. Zuverlässigen Quellen zufolge erscheinen heute in Polen gegen 200 illegale oder halblegale Zeitungen und Zeitschriften. In Polen gibt es jetzt mehr Untergrundverlage als auf dem Höhepunkt der “Solidaritäts”-Bewegung. Der grösste davon, “Kreng” (Kreis), gibt Bücher in Auflagen von etwa 10.000 Exemplaren heraus. Unlängst erschien George Orwells “1984”. In kürzester Zeit war das Buch vergriffen.
Bis zur Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981 veranstaltete die “Solidarität” Massenkundgebungen auf den Plätzen und Strassen polnischer Städte. Heute treffen sich deren Anhänger in katholischen Kirchen. Hier werden nicht nur Versammlungen abgehalten, sondern auch Buch- und Kunstausstellungen veranstaltet. Natürlich wissen die polnischen Sicherheitsbehörden davon, hielten es aber für zweckmässiger, von einer Konfrontation Abstand zu nehmen.
Die “Solidarität” hat einen Geheimsender, dessen Nachrichten von Millionen Polen gehört werden. Übrigens druckt die “Solidarität” ihre eigenen Briefmarken, die zu philatelistischen Seltenheiten werden dürften.
Diese Vorgänge sind letzten Endes eine Folge dessen, dass die kommunistische Partei Polens ihre einstige Bedeutung beträchtlich eingebüsst hat. Heute gibt es in Polen drei Kräfte: die Regierung Jaruzelskis, die katholische Kirche und die “Solidarität”. Über General Jaruzelskis Rolle sind sich Freunde wie Kritker nicht ganz im klaren. Seine Position Moskau gegenüber lässt zwei Deutungen zu. Die einen halten ihn für einen Erfüllungsgehilfen des Kremls. Andere hingegen betrachten Jaruzelski als tragische Gestalt eines polnischen Patrioten, dem es nur darum geht, eine (sowjetische) Invasion seines Heimatlands zu verhüten. Unumstössliche Tatsache ist, dass Jaruzelski fast sämtliche politische Häftlinge aufgrund eines Amnestie-Erlasses entlassen hat.
Jaruzelskis Politik missfällt den Kreml-Falken und deren polnischen Anhängern im Politbüro. Die Ermordung des 37jährigen Warschauer Priesters Jerzy Popieluszko entspricht deshalb keineswegs Jaruzelskis Intentionen. Die Schandtat ist daraufgerichtet, den General in Misskredit zu bringen. Die linientreuen Mitglieder des Moskauer Politbüros rechnen damit, dass es in Polen zu Protestkundgebungen und Massendemonstrationen kommen könnte. Falls General Jaruzelski keine harten Massnahmen ergreift, hofft der Kreml, den General durch einen moskauhörigen Mann zu ersetzen.
Moskau hat sich augenscheinlich dazu entschlossen, die polnischen Mißstände zu beseitigen. Die nächsten Tage und Wochen könnten die wahre Rolle General Jaruzelskis offenbaren, könnten entscheidend sein für den General, wichtig für Polen.

L.K.

[Aufbau Nov. 9, 1984. p.7]

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