Stalins Tochter kehrte in die Sowjetunion zurück

Im Westen schon fast vergessen — Private und berufliche Enttäuschungen

Die Heimkehr Swetlana Allilujewas, der Tochter Josef Stalins, ist zweifellos ein Propagandatrumpf des Kremls. Als Swetlana vor 17 Jahren die Erlaubnis erteilt wurde, die Urne ihres verstorbenen Verlobten Brijesh Singh nach Indien zu bringen, weilte sie mehrere Tage in der Sowjetbotschaft in Neu-Delhi. Als sie sich eines Abends davon überzeugte, dass während eines Zechgelages niemand auf sie acht gab, fuhr sie mit einem Taxi zur US-Botschaft. Der Botschafter hatte sich schon zur Ruhe begeben. Als der wachhabende Marineinfanterist die nächtliche Besucherin nach ihrem Namen fragte, lautete die Antwort: “Ich bin die Tochter Josef Stalins”. Selbstverständlich wurde der Botschafter geweckt. Bald brachten die westlichen Massenmedien die Sensationsnachricht: Swetlana Allilujewa, die Tochter Stalins, war zur Ьberläuferin geworden. Die Vereinigten Staaten gewährten Swetlana politisches Asylrecht. Im April 1967 gelangte sie — nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in der Schweiz — nach New York. Ihr Buch “Zwanzig Briefe an einen Freund”, das sie im Sommer 1963 in einem in der Nähe Moskaus gelegenen Dorf geschrieben hatte, wurde zum Bestseller. Mehrere Jahre vor ihrer Flucht in den Westen hatte sie sich in einer kleinen russisch-orthodoxen Kirche taufen lassen.

Enormer Prestigeverlust

       Swetlana Allilujewas Flucht und ihre schriftstellerische Tätigkeit in den USA (dem ersten Buch folgte ein zweites) fügten dem Kreml einen erheblichen Prestigeverlust zu. In ihrem zweiten Buch, das “Nur ein Jahr” betitelt war, schrieb die Tochter Stalins u.a. folgendes: “Verfluchter Kreml! Verfluchter Kerker, in den sie das ganze Land verwandelt haben! Jetzt folgen sie auch mir auf den Fersen”. Und ferner. “Unglückliches Land, das der Freiheit beraubt ist und die Willkür von Leuten dulden muss, die — im Vergleich zum Zarismus — noch schlimmer sind”. Und: “Ach, wie ich euch hasse! Ihr erlaubt dem Volk nicht, ein normales Leben zu führen und frei zu atmen”.
In den USA unterhielt Swetlana Allilujewa Kontakte mit bekannten Vertretern der russischen Exilgemeinschaft. In New York traf sie sich mit Kerensky, dem Expremier der russischen provisorischen Regierung, die von den Bolschewiken gestürzt wurde. Mehrmals wurde die berühmte Ьberläuferin von Andrej Sedych, dem Chefredakteur der in New York erscheinenden russischsprachigen Tageszeitung interviewt.
Eine Weile lang stand Swetlana im Brennpunkt des allgemeinen Interesses im Westen. Stalins Tochter wurde in den USA zu einer Art Berühmtheit. Ihre Bücher, die nur spärlichen Einblick in die verbrecherischen Aktionen ihres Vaters gewähren, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Grund hierfür war nicht der informative Wert der Bücher, sondern die Person der Verfasserin-Tochter eines der grössten Tyrannen der Weltgeschichte. Swetlana Allilujewa verdiente eine hübsche Summe — etwa eine Million Dollar.

Der KGB schlägt zurück

       Der KGB versuchte anfangs, Swetlanas Flucht in den Westen und ihre beiden Bücher totzuschweigen. Doch ein grosser Teil der Sowjetbevölkerung hört westliche Rundfunksendungen. Deshalb wurden in Moskau und anderen Sowjetstädten Gerüchte in Umlauf gesetzt, denen zufolge Swetlana angeblich bei einem Autounfall umgekommen sei. Als diese KGB-Taktik ihren Zweck verfehlte, wurde in Moskau eine Fälschung der “20 Briefe an einen Freund” fabriziert. Mit Hilfe des internationalen KGB-Agenten Viktor Louis, der offiziell Reporter des Londoner Abendblattes “Evening Standard” ist, wurde der verfälschte Text des Allilujewa-Buchs im Westen verbreitet (in der sowjetischen Buchvariante waren alle Stellen, die das Prestige des Kremls mindern konnten, ausgelassen). Aber auch diese KGB-Taktik erwies sich als unwirksam.

Leben im Westen

       Im Jahr 1970 heiratete Swetlana den amerikanischen Architekten William Peters. Dieser Ehe entspross ein Kind — die heute 13jährige Olga. Aber schon 1973 liess sich Swetlana Peters scheiden. Mehrere Jahre lang lebten sie und ihre Tochter in Princeton (N.J.). In einigen Presseinterviews erklärte die Tochter Stalins, ihr sei einzig und allein daran gelegen, ein ruhiges, ungestörtes Leben zu führen. Wiederholt sagte sie auch, sie würde alles daransetzen, dass Olga im Geist der angelsächsischen Kultur erzogen und nie erfahren würde, wer ihr Grossvater gewesen sei.
Infolge ungünstiger Finanzaktionen schmolz Swetlanas Kapital (von der Million waren nur 200.000 Dollar verblieben) dahin. Seit Mitte der siebziger Jahre war Frau Peters ausserdem längst keine Sensation mehr. Nur selten noch erschienen Interviews mit ihr in der amerikanischen Presse. 1982 zog Swetlana nach England, wo sie in Cambridge eine Wohnung mietete. Olga sollte eine britische Schulausbildung erhalten.
Die 15 in den USA verbrachten Jahre waren für die Tochter Stalins enttäuschend. Dies lässt sich u.a. auch darauf zurückführen, dass man sie in Amerika als Schriftstellerin nicht ernstnahm. Ihrer Meinung nach wurden ihre Bücher nur deshalb gelesen, weil sie eben die Tochter des sowjetrussischen Diktators war.
In England gewährte Swetlana Allilujewa britischen Journalisten mehrere Interviews. In den Gesprächen mit den Korrespondenten begann sie plötzlich, ihre sowjetische Heimat zu loben.
Es ist anzunehmen, dass Swetlana Allilujewa mit der Londoner Sowjetbotschaft schon längere Zeit in Kontakt stand. Ihre Heimkehr und die diesbezüglichen Voraussetzungen wurden zweifellos aufs genaueste erörtert. Der Sowjetbotschafter war wohl kaum befugt, derartige Fragen selbständig zu entscheiden. Swetlanas Heimkehr war von den höchsten Sowjetgremien in Moskau sanktioniert worden.
Swetlana Allilujewa ist wohl die erste Überläuferin, der — nach ihrer Ausbürgerung am 19. Dezember 1969 — jetzt die sowjetische Staatsbürgerschaft wieder zuerkannt wurde. Ьber die Heimkehr berichteten die “Iswestija”, die Nachrichtenagentur TASS und das sowjetische Fernsehen.

Persönliche Tragödien

       Swetlanas drei offizielle Ehen gingen in die Brüche. Ihr erster Gatte Morosow (ursprünglich Moros) war Jude und wurde deshalb von Stalin verhaftet und nach Sibirien geschickt, wo er angeblich umgekommen ist. Ihr zweiter Ehemann war Jurij Schdanow (heute Rektor der Rostower Universität, Sohn des gefürchteten StalinKommissars Andrej Schdanow). Diese Ehe war von kurzer Dauer. Swetlana liess sich von Schdanow scheiden.
Schon nach Stalins Tod wollte Swetlana den indischen Kommunisten Singh heiraten. Das Politbüro verweigerte der Stalin-Tochter die Eheschliessung mit dem bejahrten Inder. Wie schon erwähnt, scheiterte auch die in den USA geschlossene Ehe mit dem Architekten Peters.
Swetlanas erste Liebe war der sowjetjüdische Filmregisseur Kapler. Als Swetlana ihrem Vater von Kapler erzählte, ohrfeigte Stalin sie und liess den “Judenbengel” verhaften.
Allilujewa kehrt in die UdSSR nicht mit leeren Händen zurück. Sie bringt ein Buchmanuskript mit, das sicherlich wesentlichen Дnderungen unterworfen werden wird. Vorläufig wird die Heimkehrerin vom KGB ausgehorcht und instruiert.
Die heute 58jährige Swetlana Allilujewa hat 1967 — bei ihrer Flucht in den Westen — in Moskau zwei Kinder zurückgelassen: den damals 22jährigen Josif Allilujew (Morosows Sohn) und seine Stiefschwester Jekaterina Schdanowa (damals war sie 17 Jahre alt).
Nach Ansicht amerikanischer Beobachter lässt sich Swetlanas Heimkehrentschluss hauptsächlich mit ihrer Sehnsucht, die Kinder wiederzusehen, erklären. Es sei aber betont, dass Stalins Tochter stets darum bemüht war, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Dieses Bedürfnis war sowohl für ihre Flucht in den Westen als auch für ihre Heimkehr von grösster Bedeutung.

L.K.

[Aufbau Nov. 16, 1984. p.8]

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