Wie zaristisch ist die Sowjetunion?

Wissenschaftler streiten um die politisch-historischen Wurzeln der UdSSR

Westlichen — insbesondere amerikanischen — Historikern zufolge besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der Geschichte des zaristischen Russlands und der Sowjetpolitik der letzten 60 Jahre. Führende amerikanische Sowjetologen wie z.B. Zbigniew Brzezinski, Adam Ulam, Richard Pipes u.a. betonen immer wieder aufs neue, dass das Sowjetregime — von Stalin bis Tschernenko — die dem Zarismus eigenen autokratischen Elemente in gigantischem Mass intensiviert und ausgebaut hat.
Im Gegensatz zu den meisten Ländern Westeuropas gab es in Russland keine lang andauernde Epoche des Feudalismus. Vom 13. bis 15. Jahrhundert beherrschten die Tataren fast ganz Russland. Erst Iwan III. eroberte Nowgorod und Twer und befreite Russland vom tatarischen Joch. Iwan der Schreckliche (1533-1584) wurde zum eigentlichen Begründer des russischen Staatswesens. Er war es, der die Autokratie in Russland begründete und jeden Widerstand schonungslos brach. Die Romanow-Dynastie, die bis zur Februarrevolution 1917 in Russland an der Macht war, setzte die autokratische Politik ihrer Vorgänger fort.
Das Volk galt als Eigentum des Zaren. Die völlige Unterordung des Individuums unter die Macht des Staates, den der Zar verkörperte, drückte der Geschichte Russlands ihren Stempel auf. Es gab keine demokratische Entwicklung, keine Bürgerrechte. Die orthodoxe Kirche war ein williges und gehorsames Werkzeug des Zarismus. In keinem anderen Land Europas gab es eine derartige jahrhundertelange Unterdrückung der Bürger und der gesamten Gesellschaft durch den Staat, der dem Willen des Autokraten völlig unterlag.
Bei der historischen Analyse der Sowjetpolitik darf die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution weder ignoriert noch unterschätzt werden. Selbstverständlich wäre es eine Simplifizierung, das Stalinsche GULAG, in dem Millionen Menschen umkamen, als direkte Folge der zaristischen Alleinherrschaft zu betrachten. Gleichzeitig besteht aber ein indirekter kausaler Zusammenhang zwischen dem sowjetischen Totalitarismus und der zaristischen Autokratie.
Viele prominente, heute im Westen lebende russische Exilierte (Alexander Solschenizyn, Wladimir Maximow, Wladimir Bukowsky u.a.) streiten jeglichen Zusammenhang zwischen dem Sowjetregime und dem zaristischen Absolutismus ab. In der russischsprachigen Exilpresse wurden und werden unzählige Streitschriften veröffentlicht, die die komplexe, kausalbedingte Deutung der Geschichte Russlands durch westliche Sowjetologen kategorisch ablehnen. Die heutigen antikommunistischen Ideologen, die in den siebziger Jahren entweder in den Westen auswanderten oder von den Sowjets des Landes verwiesen wurden, behaupten allen Ernstes, dass der Marxismus ein aus dem Westen stammendes, dem russischen Volk wesensfremdes System sei. Hierbei wird oft angedeutet, dass es “Fremdlinge” (Juden, Letten, Ungarn u.a.) gewesen seien, die angeblich dem “unschuldigen” russischen Volk den Bolschewismus aufgezwungen haben. |
Selbstverständlich waren Marx und Engels westliche Theoretiker. Die sowjetische Spielart des Marxismus wurde jedoch von Lenin und Stalin geprägt. Der heutige sowjetische Imperialismus, gekennzeichnet durch die völlige Unterordnung des Individuums unter die Macht des Staats, knüpft in vielerlei Hinsicht an die zaristischen Traditionen der Vergangenheit an. Der Expansionsdrang des Kremls lässt sich oft von zaristischen Vorbildern leiten. Freilich drangen die russischen Zaren nicht bis nach Angola. Äthiopien und Indochina vor. Das Ausmass der sowjetischen Politik unterscheidet sich von der Zielsetzung der Zaren. Dennoch lässt sich die Tendenz zum russischen Expansionismus schon im 19. Jahrhundert nachweisen.
Auch auf innenpolitischem Gebiet (Verhaftung von Andersdenkenden, staatlich inspirierter Antisemitismus, Verweigerung elementarer Menschenrechte) stösst der objektive Betrachter auf zahlreiche Parallelen.
1843 erschien in Paris das “Russland 1839” betitelte Buch des Marquis de Custin. Erst 1910 wurde die russische Übersetzung dieses Werks veröffentlicht. Marquis de Custins Reisebeschreibung ist noch heute höchst aktuell. Der französische Adelige schildert in seinem Werk den Mangel an Freiheit, die Unterdrückung des Individuums, die Trunksucht und das Elend des Volks. George Kennan hat in seinem 1973 erschienenen Buch “Marquis de Custin and His Book” daraufhingewiesen, dass die von dem französischen Beobachter geäusserten Ansichten bezüglich Russlands heute genau so zutreffend seien wie vor 150 Jahren.
Seit den dreissiger Jahren wird den Sowjetbürgern de Custins Russland-Buch vorenthalten. Laut jüngsten Meldungen aus Moskau wird das Buch “Russland 1839” bei Haussuchungen beschlagnahmt. Die Lektüre dieses Werks führt meist dazu, dass die erwischten “Missetäter” fristlos in eine “psychische Heilanstalt” eingeliefert werden.
Von besonderem Interesse ist aber die Tatsache, dass auch manche russische Exilnationalisten das Buch des französischen Marquis als Verunglimpfung und Verhöhnung des russischen Volks betrachten. Weder die Sowjets noch die Exilfanatiker sind gewillt, zuzugeben, dass es zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit Russlands recht viel Gemeinsames gibt.

L.K.

[Aufbau Nov. 23, 1984. p.6]

INDEX   SCAN