Widersprüchliche Widerspruchstheorie

Illusion und Wirklichkeit in der UdSSR

In der Sowjetunion wird offiziell gelehrt, dass zwei Arten von Gegensätzen aufs strengste voneinander zu unterscheiden seien — antagonistische und nichtantagonistische. Dem Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung zufolge sind antagonistische Gegensätze nur für die kapitalistische Welt kennzeichnend, während es im Sozialismus zwar nichtantagonistische Gegensätze geben könne, jedoch keine antagonistische Konflikte.
Die spekulative Natur dieser Kategorien lässt sich allein daraus ersehen, dass seit Anfang der sechziger Jahre zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China ein bisher unüberwindbarer Konflikt besteht. In beiden dieser Länder ist eine sozialistische Gesellschaftsordnung — gemäss dem Marxismus-Leninismus — errichtet worden. Die Ursache des sowjetisch-chinesischen Konflikts, der Ende der sechziger Jahre in Damansk zu blutigen Zusammenstössen führte, hat also mit dem Kapitalismus nichts zu tun.
Auch der Konflikt zwischen Stalin und Tito Ende der vierziger Jahre liess sich nicht auf Fragen der Gesellschaftsordnung zurückführen. In beiden Ländern hatte der Sozialismus gesiegt. Sowohl die sowjetischen als auch die jugoslawischen Kommunisten beriefen sich auf Marx, Engels und Lenin. Somit waren beide obengenannten Konflikte (die sowjetisch-chinesischen Feindseligkeiten und der sowjetisch-jugoslawische Streit) von ausgesprochen antagonistischer Natur.
In den dreissiger Jahren suchte Josef Stalin, seinen Massenterror dadurch zu rechtfertigen, dass der Klassenkampf sich angeblich intensiviert habe. Stalins Gegner, die Vertreter der alten Lenin-Garde, wie beispielsweise Bucharin, Kamenjew, Sinowjew und viele andere, wurden vom Sowjetdiktator als “Volksfeinde” bezeichnet, die “im Interesse ausländischer imperialistischer Kreise” agierten.
Nach Stalins Tod, da der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR angeblich schon vollendet war, wurde die Theorie von den unterschiedlichen Konflikten (den antagonistischen und nichtantagonistischen Gegensätzen) mit besonderem Eifer propagiert.
Doch auch in den Breschnjew-Jahren trat die Pseudowissenschaftlichkeit dieser Konflikt-Theorie zutage. Hunderttausende Soldaten und Offiziere aus fünf Ländern des Warschauer Pakts besetzten die sozialistische Tschechoslowakei, nur weil Dubcek einen “Sozialismus menschlichen Antlitzes” anstrebte. Der Invasion der Tschechoslowakei lag offensichtlich ein “antagonistischer Gegensatz” zugrunde.
In der UdSSR ist die literarische Darstellung ernster sozialer Konflikte innerhalb der Sowjetgesellschaft faktisch tabu. Dem marxistisch-leninistischen Dogma zufolge darf es einfach im real existierenden Sozialismus keine antagonistischen Gegensätze geben. Somit wird das Leben, das sich ohne Widersprüche und Antagonismen einfach nicht vorstellen lässt, durch ein totes Schema ersetzt. Die Sowjetführung lässt sich von der Illusion leiten, dass Probleme, die totgeschwiegen werden, sich von selbst lösen. Was nicht in den engen Rahmen des Dogmas passt, kann ignoriert werden. Kritische Schriftsteller und Theaterregisseure, die den Mut aufbringen, die sowjetische Wirklichkeit mit allen ihr eigenen Widersprüchen dazustellen, werden als “antisowjetische Verleumder” verunglimpft.
Illusionen und Dogmen sind aber nicht imstande, die verschiedenartigen in der UdSSR bestehenden Konflikte aus der Welt zu schaffen. Zu diesen für tabu erklärten, de facto aber bestehenden Konflikten gehören beispielweise:
1) der Gegensatz zwischen der Parteielite (der sog. Nomenklatur) und dem überwiegenden nichtprivilegierten Teil der Bevölkerung. Mangelwaren gibt es nur für die nicht zur Nomenklatur gehörenden Sowjetbürger. Diese Millionen einfacher Sowjetmenschen müssen tagtäglich nach Lebensmitteln anstehen. Der einzige ihnen gewährte Trost ist Alkohol, der die Menschen in der Sowjetunion einander näher bringt;
2) der Gegensatz zwischen den Apparatschiks und der literarisch-künstlerischen Intelligenz. Gerade dieser Konflikt hat dazu geführt, dass in den siebziger Jahren die begabtesten Schriftsteller, Musiker und andere Vertreter des Geisteslebens der UdSSR ihre Heimat verlassen haben (Juden und NichtJuden); ,
3) der Konflikt zwischen Stadt und Land. Marx und Lenin zufolge sollte die Gegensätzlichkeit zwischen Stadt und Land — durch Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung — zum Schwinden gebracht werden. Doch die Wirklichkeit hat mit diesen dogmatischen Vorstellungen nichts gemein. Die Dorfbewohner verlassen in immer grösserer Zahl ihre Kollektivwirtschaften und sind darum bemüht, sich in den Städten niederzulassen. Immerhin ist in der Stadt die Waren Versorgung besser als auf dem Lande. Im Zuge dieser Entwicklung werden Studenten und Akademiker zur Verrichtung von Erntearbeiten aufs Lande geschickt.
Dies sind nur einige der besonders augenfälligen antagonistischen Gegensätze der Sowjetgesellschaft. Die “Lehre” von den zwei Arten der Gegensätze (der antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüche) hat in der Realität ein klägliches Fiasko erlitten.

L.K.

[Aufbau Nov. 30, 1984. p.6]

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