Sowjetjuden als “Exportware”

Moskaus Spiel mit der Auswanderung

Ende der sechziger Jahre fand in Moskau eine denkwürdige Politbüro-Sitzung statt, an der auch sämtliche Allunionsminister teilnahmen. Auf der Tagesordnung stand die sog. Judenfrage. Der Verlauf dieser Tagung ist in der sowjetischen Hauptstadt ein offenes Geheimnis.
Das sowjetische Politbüro richtete an die anwesenden Minister die konkrete Frage, wieviele Jahre noch erforderlich seien, um ohne Juden in führenden Positionen auskommen zu können. Die Minister nannten verschiedene Ziffern. Erstaunlich war aber die Antwort des damaligen Verteidigungsministers Marschall Gretschko. Ohne Juden, behauptete der Marschall, könne die sowjetische Verteidigungsindustrie in den kommenden 25 Jahren (also bis Anfang der neunziger Jahre) überhaupt nicht funktionieren.
Diese historische Sitzung der höchsten Vertreter von Partei und Staat hatte folgende Konsequenzen: 1) die Kenntnisse der Sowjetjuden auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik werden verwertet, die Träger dieser Kenntnisse nehmen aber keine hohen Posten mehr ein; 2) jüngeren Juden wird der berufliche Aufstieg bedeutend erschwert oder gar völlig versperrt; 3) eine strikte Regelung der Zulassung von Juden zu den Universitäten.
Jetzt sind es fast ausschliesslich Russen, Weissrussen oder Ukrainer, die in leitender Funktion auftreten. Falls aber die russischen oder ukrainischen Wirtschafts- und Industriebosse mit der ihnen übertragenen Aufgabe nicht fertig werden, so haben sie ja ihren Juden, der für sie die Arbeit verrichtet, in der amtlichen Hierarchie aber ganz unten steht.
Im Gegensatz zur Vorkriegszeit ist sowohl der Apparat der sowjetischen Sicherheitsbehörden als auch die Generalität so gut wie “judenrein” (es gibt zwar zwei bis drei Generäle jüdischer Herkunft, sie haben aber längst das Rentenalter überschritten und üben heute lediglich eine rein nominelle oder propagandistische Funktion aus, wie beispielsweise General Dragunsky, Vorsitzender des “Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit”).
Gegenwärtig leben in der UdSSR etwa 1,7 Millionen Juden. Etwa 30% der Sowjetjuden mittleren Alters (und über 40% der älteren Generation) haben abgeschlossene Hochschulbildung. Nur die Jüngeren (Zwanzig und Dreißigjährigen) haben die sowjetische “Bildungspolitik” am eigenen Leib zu spüren bekommen. Natürlich haben auch heute einige sowjetischjüdische Abiturienten Zutritt zu den zahlreichen pädagogischen Instituten (mit US-College vergleichbar). Für Sowjetjuden ist es aber fast ausgeschlossen, an einer Universität immatrikuliert zu werden (sogar für waschechte Russen, deren Eltern keine hierfür nützlichen “Beziehungen” haben, ist es kein leichtes, z.B. an der Moskauer oder Leningrader Universität zu studieren).
In der UdSSR gibt es bekanntlich keine Arbeitslosigkeit. Auch die Juden arbeiten, ihre Kinder besuchen Grund- und Mittelschulen. Wer Glück und Beziehungen hat. absolviert eine technische Hochschule oder ein pädagogisches Institut. Es wäre verfehlt anzunehmen, dass Sowjetjuden heute lauter Strassenfeger, Fahrstuhlführer oder kleine Büroangestellte seien. Die Situation ist viel komplizierter, als sie oft in der westlichen Presse dargestellt wird. Nach wie vor sind Tausende Juden an sowjetischen Forschungsstätten tätig. Während sie aber noch vor 15 bis 20 Jahren Abteilungsleiter oder gar Direktoren waren, bekleiden sie heute bescheidenere Posten. In zahlreichen Fällen sehen sich Sowjetjuden genötigt, eine Arbeit anzunehmen, die nur wenig Geld einbringt und in der UdSSR nicht als respektabel gilt.
Dazu einige Beispiele: Vor zehn Jahren absolvierte Natalija N. das Leningrader Konservatorium. Heute arbeitet sie als Musiklehrerin in einem Kindergarten. Um diese Arbeit zu verrichten, braucht man kein Konservatoriumsdiplom. Natalija hatte keine andere Wahl, als Musikunterricht in einem Kindergarten zu erteilen (ins Konservatorium wurde sie 1970 aufgenommen, als die sowjetjüdische Situation erträglich war).
Der 26jährige Emil P. hat vor mehreren Jahren das Moskauer Textil-Institut absolviert. Trotz seiner Parteimitgliedschaft gelingt es ihm nicht, eine Anstellung in der sowjetischen Hauptstadt, wo seine Eltern eine Kooperativ-Wohnung haben, zu finden. Heute ist er Textil-Ingenieur in einer Fabrik in Mittelasien.
In der Sowjetunion gibt es Zehntausende Refuseniks. Viele sowjetjüdische Auswanderungswillige wurden zu Refuseniks, weil sie angeblich “Staatsgeheimnisse” kannten. Dienst in der Sowjetarmee führt auch zu Staatsgeheimnis. Offiziell gibt es eine dreijährige Frist, nach deren Ablauf das Geheimnis als “entlüftet” gilt. Dennoch wird Hunderten von Refuseniks die Auswanderung schon zehn bis fünfzehn Jahre lang verweigert. Sie sind nach wie vor “Träger von Staatsgeheimnissen”.
Für die Gewährung des Meistbegünstigungs-Status durch den US-Kongress und für andere Handelsprivilegien wären Gorbatschow und seine Kollegen vom Politbüro bereit. Hunderttausende Juden auswandern zu lassen (selbstverständlich unter dem Aushängeschild der Familienzusammenführung). Der Sowjetstaat ist keineswegs an allen Juden des Landes interessiert. Der Kreml wäre — sofern ihm der Handel akzeptabel erscheint — bereit, mindestens eine halbe Million Juden ziehen zu lassen.
Michail Gorbatschows Judenpolitik ist eine von seinem Lehrmeister Jurij Andropow übernommene Taktik Sowjetjuden sind für den Kreml eine potentiell wertvolle “Exportware”. Die Sowjets warten nur den rechten Augenblick ab, um den gewünschten Preis zu erzielen. Zurzeit gibt es auf dem Markt der internationalen Politik keine passenden Offerten. Das Schicksal der Sowjetjuden hängt unmittelbar von der Weltsituation ab.

L.K.

[Aufbau Aug. 16, 1985. p.3]

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