Bonner Konferenz über Probleme der Juden und Deutschen in der UdSSR

Under der gegenwärtigen Auswanderungssperre des Kremls leiden nicht nur Sowjetjuden, sondern auch Sowjetdeutsche. In der UdSSR leben heute etwa 1,8 Millionen Juden und über zwei Millionen Deutschstämmige. In den siebziger Jahren ist es etwa 270.000 Sowjetjuden gelungen, nach Israel oder in den Westen zu emigrieren. Rund 85.000 ehemaligen Sowjetdeutschen wurden Ausreisevisen bewilligt. Die Sowjetdeutschen begaben sich fast ausnahmslos in die Bundesrepublik, nicht in die DDR.
Im Gegensatz zu den zahlreichen Minderheiten der UdSSR, die auf eigenem Territorium ihre kulturellen Traditionen — im Rahmen der marxistischen Ideologie — pflegen können (etwa Aserbaidschaner, Georgier, Letten, Litauer, Kasachen, Usbeken u.a.). befinden sich die Sowjetjuden und Sowjetdeutschen in einer äusserst schwierigen Situation.
Die Deutschen, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ihre autonome Republik an der Wolga hatten, wurden von Stalin geheimer Sympathien mit den Nazis verdächtigt und nach Sibirien und Kasachstan verbannt. Das gleiche Schicksal traf auch andere Völker der UdSSR, wie die Krimtataren, die Tscherkessen, Inguschen u.a. Zehntausende Deutsche kamen im Verlauf der Deportation um. Die Ьberlebenden zeichneten sich durch Fleiss und Arbeitsamkeit aus. Auch in Sowjetasien vermochten die Deutschen ihre Existenz zu sichern und ihre Kinder grosszuziehen. Sie bestätigten sich hauptsächlich als Handwerker, Techniker und Facharbeiter.
Nach Abschluss der Ostverträge begann — fast gleichzeitig mit der sowjetjüdischen Erneuerungsbewegung — der Kampf der Sowjetdeutschen um ihr Recht auf Auswanderung.
Etwa 300.000 bis 400.000 Sowjetjuden haben aus Israel die obligaten “Einladungen” erhalten (was freilich nicht bedeutet, dass sie ihre Papiere eingereicht haben). Gegen 100.000 Sowjetdeutsche haben sich aus der Bundesrepublik Einladungen kommen lassen.
Da es in der Sowejtunion glücklicherweise keine Amerikaner gibt, konzentriert sich das potentielle Feindbild — ungeachtet aller Beteuerungen der Völkerfreundschaft seitens Michail Gorbatschows — auf die Juden und Deutschen des Landes.
Die sowjetischen Massenmedien brandmarken schon fast 40 Jahre lang den Zionismus als “Agentur des Imperialismus”. Im Westen wird oft die berechtigte Frage nach dem Ursprung des sowjetischen Antisemitismus gestellt.
Tatsache ist, dass es in der UdSSR vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs keinen von oben inspirierten Antisemitismus gab. Die ersten Anzeichen eines Antisemitismus offenbarten sich während des Kriegs. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die nazistische Propaganda in den besetzten Gebieten, die Juden und Kommunisten gleichsetzte und beide der Vernichtung anheimgab, eine Rückwirkung auf die sowjetische Ideologie hatte. Um dieser für kommunistische Belange psychologisch schädlichen Tendenz entgegenzuwirken, nahm Stalin eine entschiedene Distanzierung der Begriffe Judentum und Kommunismus vor. Gleichzeitig setzte eine Glorifizierung russisch-nationaler “Errungenschaften” ein.
Die antisemitischen Stimmungen wurden jedoch durch die späteren Solidariätsbekundungen sowjetischer Juden für die Existenz Israels verstärkt.
Die antizionistische (faktisch antisemitische) Propaganda der heutigen Machthaber ist aufs genaueste berechnet. Mittels antizionistischer Phraseologie gelingt es, auch aussenpolitischen Profit einzustreichen. Antizionismus dient somit als Mittel, sowjetische Einflußsphären im Nahen Osten und in der Dritten Welt zu erweitern. Die Sowjetdeutschen, deren Vorfahren im 18. Jahrhundert nach Russland kamen, betrachten ihren heutigen asiatischen Wohnort nicht als Heimat. Die periodische Hetze der sowjetischen Massenmedien gegen die “Bonner Revanchisten” trägt zur Auswanderungsstimmung der Sowjetdeutschen bei.
Sowohl die Deutschen wie die Juden werden in der UdSSR faktisch diskriminiert (für sie gibt es — von Einzelfällen abgesehen — nur zweit- oder drittrangige Arbeitsplätze; für die Kinder dieser Minderheiten kommt ein Studium an einer der besten Universitäten des Landes nicht in Frage). Im Westen wurden bisher die gemeinsamen Probleme der Juden und Deutschen der UdSSR nicht als Fragen der Diskriminierung von Minderheitsgruppen betrachtet. Erstmals haben sich führende bundesdeutsche Politiker und Sozialwissenschaftler — zusammen mit ihren amerikanischen und jüdischen Kollegen — für die Rechte der deutschen und jüdischen Minderheiten in der Sowjetunin eingesetzt. In Bonn wurde dieser Tage eine internationale Konferenz abgehalten, die der Lage der Minderheiten in der UdSSR gewidmet war. An der Bonner Konferenz nahmen etwa fünfzig Völkerrechtler teil, darunter Vertreter amerikanischer und bundesdeutscher Universitätetn.
In einer abschliessenden Resolution erklärten die Konferenzteilnehmer, die Behandlung der jüdischen und deutschen Minderheiten durch die Sowjetbehörden sei eine Verletzung international anerkannter Normen. Die Bonner Konferenzteilnehmer riefen die UN-Menschenrechtskommission auf, das “unverrückbare Recht der Bürger aller Staaten, ihr eigenes Land zu verlassen und wieder heimzukehren”, festzuschreiben. Dieses Recht stehe auch den Juden und Deutschen der UdSSR zu.
An der Konferenz nahmen führende Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland teil, darunter Volker Rühe, stellvertretender Bundestag-Fraktionsvorsitzender der CDU, und Richard Löwenthal, ein Spitzenpolitiker der SPD, der am Ost-West-Dialog beteiligt ist. Auch die Botschafter Italiens und Israels in Bonn sowie hochgestellte Vertreter der US-Botschaft waren vertreten. Bei Vorbereitung und Durchführung der Konferenz spielte das American Jewish Committee eine besondere Rolle.
Eine gemeinsame amerikanisch-deutsche Strategie und Taktik in Fragen des Auswanderungsrechtes der Sowjetjuden und Sowjetdeutschen könnte angesichts des für 1986 vorgesehenen Besuchs Michail Gorbatschows in Bonn von Nutzen sein und eventuell die Lage mancher Refuseniks erleichtern.

L.K.

[Aufbau Apr. 25, 1986. p.6]

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