Sehnsucht nach Jerusalem
Die schwierige Situation der Juden in der Sowjetunion
Achtzig Prozent der in der Sowjetunion lebenden Juden gelten als völlig assimiliert. Und doch läßt sich seit etwa fünf Jahren ein überraschender neuer Trend beobachten: eine “jüdische Renaissance” unter den zumeist jungen Intellektuellen, eine Neubesinnung auf die jüdische Basis. Sie gehen wieder in die Synagogen, singen israelische Lieder und tanzen wieder in Chora.
Von ROBERT HERZENBERG
Doch mit der öffentlichen Neubesinnung brechen auch alte Konflikte wieder auf. Denn während im Westen der Begriff “Jude” konfessionellen Charakter hat, gilt der Jude in der UdSSR als Ausländer, als Oppositioneller, der reihenweise Schikanen zu erleiden hat: Er hat Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, an der Universität, der KGB interessiert sich für ihn … In der freien Welt ist Judentum eine Konfession. Und sogar im zaristischen Rußland gab es für den Juden eine Alternative: Es stand ihm frei, sich taufen zu lassen und dadurch der Diskriminierung zu entrinnen, oder aber Jude zu bleiben. Dann war er sich jedoch dessen bewußt, daß er die ihm bevorstehenden Leiden aus freien Stücken gewählt hatte. Die Zugehörigkeit zum Judentum war also im vorrevolutionären Rußland eine Gewissensfrage.
Die Sowjetführung, die die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Völker auf ihre Fahne geschrieben hat, betrachtet den Juden als Angehörigen einer Nation. Allein seine Abstammung ist ausschlaggebend.
Wer sind diese sowjetischen Bürger jüdischer Nationalität, die in ihrer Gesamtheit weit über zwei Millionen zahlen?
Die Skala der Sowjet Juden reicht von Areligiosen zu Orthodoxen sowie von völlig russisch Assimilierten zu denen, die ihre jüdische Eigenart und ihr jüdisches Traditionsgut gewahrt haben. 80 Procent der sowjetischen Juden sind assimiliert. Zu ihnen gehört der überwiegende Teil der in den Großstädten (Moskau, Leningrad, Kiew) lebenden Sowjetjuden. Wie die meisten Sowjetbürger sind auch sie in einer nichtreligiösen Atmosphäre aufgewachsen. Sie haben meist nicht die geringste Vorstellung von den Grundlagen des Judaismus.
Erst in den letzten fünf Jähren läßt sich eine Art jüdischer Renaissance unter vornehmlich jungen, bisher völlig assimilierten Intellektuellen beobachten. Jedoch auch für sie ist die einzige in Moskau existierende Synagoge eher ein gesellschaftlicher Treffpunkt als eine kultische Stätte.
Trotzdem stärkt sich mit dem ständig wachsenden sowjetischen Antisemitismus die Solidarität weiter Kreise der jüdischen Großstadtbevölkerung mit Israel und dem Weltjudentum. Während der großen jüdischen Feiertage (Passah, Neujahr) hat es die Moskauer Miliz nicht leicht. Sie muß Tausende von Juden, die zur Synagoge strömen und sämtliche anliegenden Seitengassen überfluten, beobachten und in die Synagoge dirigieren. Vor dem Synagogengebäude singen Jugendliche israelische Lieder und tanzen die Chora. Angesichts dieser Ansammlung werden die ausländischen Korrespondenten von den KGB-Agenten durchaus als unerwünschte Gäste empfunden. Also bleibt den Geheimagenten nichts anderes übrig, als ihre Beobachterposten einzunehmen und ihre Kamera in Bereitschaft zu halten.
Immer geringer wird die Zahl der russisch assimilierten Juden, die sich von der Illusion leiten lassen, daß die Preisgabe ihres Judentums sie zu vollwertigen Sowjetbürgern machen könne. Zu den jiddischsprechenden Orthodoxen gehören vor allem ältere Leute in den Kleinstädten der Ukraine, Belorußlands und der Moldau. Ihrem Beruf nach sind es vorwiegend kleine Handwerker und sowjetische Handelsangestellte.
In der Sowjetunion werden diese verschiedenen Gruppierungen mit einem äußeren Stigma versehen: durch die obligatorische Angabe der Nationalität im Paß. Der diesbezügliche Vermerk beeinflußt ihr ganzes Leben. Die Angabe der im Paß verzeichneten Nationalität bei der Ausfüllung des Fragebogens etwa bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle oder beim Versuch, sich immatrikulieren zu lassen, stellt eine Hürde dar, die nur mit besonderer Geschicklichkeit vermieden werden kann: durch Schmiergelder zum Beispiel.
Redselige Personalchefs machen heute in der Sowjetunion keinen Hehl daraus, daß es eine ungeschriebene Regel gibt, derzufolge “Angehörige der Nicht-Stammbefölkerung” (Synonym für Juden) nicht eingestellt werden dürfen. Neuerdings hat man auch eine Ausrede parat: “Man kann nicht erwarten, daß wir Zeit und Geld vergeuden, um Arbeitskräfte für Israel heranzubilden.”
Während in den dreißiger Jahren, zur Zeit der großen stalinschen Säuberungsaktionen, niemand wissen konnte, ob er nicht eines Tages zu einem “klassenfremden” Element erklärt und verhaftet würde, hat sich heute die ideologische Situation gewandelt und in gewissem Sinne vereinfacht. Der Jude schlechthin gilt als der innere Feind. Zu Juden werden hierbei auch oft waschechte Russen, sofern sie politische Dissidenten sind, gestempelt. Dem dienen Gerüchte, die von der KGB in Umlauf gesetzt werden. Voller Ironie bemerkt dazu der Exil-Schriftsteller Andrej Sinjawski: “Jeder Schriftsteller russischer Herkunft, der nicht bereit ist, vorschriftsmäßig zu schreiben, wird heute zum Juden. Er ist ein entarteter Mensch und ein Volksfeind.”
Die Verteufelung des russischen Juden als Inbegriff des inneren Feindes nahm vor mehr als einem Vierteljahrhundert ihren Anfang.
Ende der vierziger Jahre, als in der sowjetischen Presse die berüchtigte Kampagne gegen den sogenannten “Kosmopolitismus” zu einem der Hauptthemen der Propaganda wurde, war es für die Sowjetjuden nicht schwer zu erkennen, gegen wen dieser Feldzug gerichtet war. Die Zeitungen machten kein Geheimnis daraus, was unter einem “Kosmopoliten” zu verstehen war. Ursprunglich jüdische Familiennamen wurden in Klammern dem russisch klingenden Pseudonym von Schriftstellern und Künstlern angefügt. “Unpatriotische Haltung und westliche Orientierung” wurden zu Begriffen, die man mit dem Judentum identifizierte.
1952 kam es zur physischen Vernichtung jüdischer Schriftsteller und Schauspieler (Markisch, Suskin, Pfeffer, Bergelsen u. a.). Und heute zweifelt niemand daran, daß der “Verkehrsunfall”, dem der sowjetische Schauspieler Michoels 1948 zum Opfer fiel, ein geplanter Mord war. Ihren Höhepunkt erreichte die antisemitische Kampagne in der UdSSR Anfang 1953, als einzig und allein Stalins Tod die Gefahr einer Deportation von den die größeren Städte bewohnenden Sowjetjuden abwandte. Das diesen Ereignissen zugrunde liegende “Ärzte-Komplott” und das in diesem Zusammenhang geplante Gerichtsverfahren belasten das Unterbewußtsein jedes sowjetischen Juden mit einem oft verdrängten, jedoch latent vorhandenen Angstkomplex.
Relativ ruhigere Zeiten traten in der Chruschtschow-Ära ein, obwohl die Auswirkungen der obligatorischen Nationalitätenangabe spürbar waren.
Nach dem Sechs-Tage-Krieg begann eine massive, angeblich antizionistische, aber ihrem eigentlichen Wesen nach antisemitische Kampagne in allen Massenmedien, die auch heute noch anhält. Antikommunismus und Faschismus werden in Zeitungsartikeln, Rundfunk- und Fernsehsendungen dem Zionismus gleichgesetzt. Fast täglich veröffentlichen sowjetische Zeitungen antizionistische Karikaturen.
Im Westen wird oft die durchaus berechtigte Frage nach der Genese des sowjetischen Antisemitismus gestellt. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?
Tatsache ist, daß es in der UdSSR vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges keinen von oben inspirierten Antisemitismus gab. Davon weiß jeder Sowjetjude der älteren Generation zu berichten. Die ersten Anzeichen des sowjetischen Antisemitismus offenbarten sich während des Krieges. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die nazistische Propaganda in den besetzten Gebieten, die Juden und Kommunisten einander gleichsetzte und der Vernichtung anheimgab, eine Rückwirkung auf die sowjetische Ideologie hatte. Um dieser für die kommunistischen Belange psychologisch schädlichen Tendenz entgegenzuwirken, begann Stalin die maximale Distanzierung der Begriffe “Judentum und Kommunismus”. Gleichzeitig setzte eine Glorifizierung russisch nationaler “Errungenschaften” ein. Obwohl Zehntausende von Sowjetjuden an der Front gefallen waren und es zahlreiche jüdische Ordensträger gab, wurde in Rußland während des Krieges die stereotype Formel von dem Juden, der Taschkent verteidigt (also im tiefen Hinterland hockt) in Umlauf gebracht.
Diese antisemitischen Stimmungen wurden durch die späteren Solidaritätsbekundungen sowjetischer Juden für die Existenz Israels verstärkt und vertieft.
Die antizionistische Propaganda der heutigen Machthaber des Kreml ist aufs genaueste berechnet. Mittels antizionistischer Phraseologie gelingt es, auch außenpolitischen Profit einzustreichen. Antizionismus dient so als Mittel, sowjetische Einflußsphären im Nahen Osten und in der Dritten Welt zu erweitern. Schließlich ist der “Antizionismus” das einzige ideologische Mittel, das Moskau zur Verfügung steht, um mit der neuen Linken in Kontakt zu kommen. Sonst gibt es zwischen ihnen fast nichts Gemeinsames.
Von Zeit zu Zeit hält es Moskau für angebracht, propagandistische Ablenkungsmanöver durchzuführen, die die westliche — hauptsächlich amerikanische — öffentliche Meinung berücksichtigen. Pressekonferenzen werden einberufen, in denen die noch übriggebliebenen prominenten, regimetreuen Sowjetjuden die Völkerfreundschaft in der UdSSR loben.
In dieser Atmosphäre ist es kein Wunder, daß Zehntausende von sowjetischen Juden jenes Risiko auf sich nehmen, das mit einem Antrag auf Ausstellung eines Auswanderungsvisums verbunden ist. Hierbei sind sie sich der Erniedrigungen und Gefahren bewußt, die einem solchen Schritt zu folgen pflegen: Betriebsversammlungen, in denen’ man zu “Verrätern des Vaterlandes” erklärt wird, Entlassung, Relegation, womöglich auch Verhaftung und Arbeitslager.
In vielen Fällen fassen die Eltern diesen Entschluß, weil sie um die Zukunft Ihrer Kinder bangen. Man gibt sich keiner Selbsttäuschung mehr hin. Harte Tatsachen sprechen dafür, daß die junge Generation der Sowjetjuden keine Zukunftsaussichten mehr hat.
[Die Welt Oct. 11, 1975. p.??]