Vom Bolshoi-Theater zur Carnegie Hall

Galina Vishnevskaya gibt einen Liederabend

Galina Vishnevskaya, die bekannte Sopranistin, die noch unlängst am Moskauer Bolshoi-Theater glänzte, gastiert in New York nicht zum ersten Mal. Seit ihrer letzten US-Tour, die sie zusammen mit ihrem Gatten, dem Cellisten Mstislav Rostropovlch, unternahm, sind fünf Jahre vergangen. Diese 5 Jahre waren jedoch für die beiden von schicksalhafter Bedeutung. 1974 faßten Rostropovich und Vishnevskaya den Entschluß, die Sowjetunion zu verlassen. Rostropovich hat mehrfach öffentlich erklärt, daß er und seine Familie nur in ein solches Rußland zurückkehren würden, in dem die künstlerische Freiheit nicht mehr unterdrückt ist.
Dieser Tage hatten die NewYorker nun wieder Gelegenheit, Madame Vishnevskaya zu huldigen. In ihrem Liederabend, der in der Carnegie Hall stattfand, wurde sie von Rostropovich am Klavier begleitet. Es war eines der ganz großen Ereignisse der New-Yorker Musiksaison.
Die russische Sängerin offenbarte in den von ihr vorgetragenen Liedern nicht nur enorme vokale Spannweite, sondern auch die Fähigkeit, in gänzlich verschiedenen Liedergenres aufzutreten. Das Programm umfaßte Lieder von Tschaikowsky, Strawinsky und Mussorgsky. Darunter waren solch zarte, lyrische Lieder wie z.B. “Warum?” und “Ich war ein Gräslein bloß” von Peter Tschaikowsky, deren Interpretierung Vishnevskayas unglaublichen Nuancen-Reichtum und ihre vokale Expressivität zur Geltung brachten. In der Darbietung von Tschaikowskys Liedern “Glaube mir nicht, mein Freund” und Hätt’ ich das nur gewußt” gelang es Vishnevskaya, so tiefe Schichten der menschlichen Seele zu berühren, daß es zu einem einmaligen, unvergeßlichen Erlebnis wurde.
Galina Vishnevskaya ist in ersten [Linie] Opernsängerin (sie gastierte erfolgreich an der Met, der La Scala, im Londoner Covent Garden sowie an der Wiener Staatsoper). Das merkte man auch an der Darbietung einer Reihe von Liedern, in denen sich nicht nur Vishnevskayas volkales Talent, sondern auch ihren großen schauspielerischen Fähigkelten kundtaten. Durch dramatische Gestaltungskraft war der Vortrag der “Lieder und Tänze des Todes” von Mussorgsky (in musikalischer Bearbeitung von Dmitrij Schostakowitsch) gekennzeichnet.
Die Wiedergabe von Stravinskys “Lieder eines russischen Mägdeleins” riß das Publikum derartig hin, daß der Sängerin nichts anderes übrig blieb, als diese Konzertnummer zu wiederholen.
Mstislav Rostropovich war bedeutend mehr als nur Klavierbegleiter. Das musikalische Zusammenwirken dieser beiden erlesenen Künstler verlieh dem Konzert den Charakter eines wahren musischen Festes.            L.K.

[N.Y. Staats-Zeitung u. Herold, Mar. 12, 1975. p. 99]

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